Tirgatao stellte mit Erleichterung fest, dass niemand versuchte, sie aufzuhalten oder ihr zu folgen. Keinesfalls wollte sie das fremde Rudel vertreiben. Nein, ihr lag daran, mit diesen Grauen zu sprechen. Dabei wollte sie gleichzeitig herausfinden, um was für Leichen es sich handelte. Die Amazone fiel in einen ausdauernden Trab und die beiden Wölfinnen huschten schattengleich neben und vor ihr her. So lange sie dem fremden Rudel noch nicht nahe waren, mussten sie danach trachten, schnell voranzukommen. Immerhin wollte Tirgatao am Morgen wieder bei der Gruppe sein.
Dank Hishn und Shona strauchelte die Amazone nicht, denn die scharfen Sinne der Wölfinnen warnten die Frau vor jeder Unebenheit, jeder Wurzel, jedem Stein auf ihrem Weg. So kamen die drei rasch voran. Erst in der Nähe des Abhangs mäßigten sie ihr Tempo. Das fremde Rudel hatte noch keine Witterung aufgenommen, da der leichte Wind Tirgatao über das Gesicht strich. Dennoch hielt es die Amazone für klüger, sich bemerkbar zu machen, bevor sie nach einer Abstiegsmöglichkeit suchte.
Hishn, Shona und Tirgatao öffenten sich gemeinsam für alle grauen Gedanken in der Nähe. Sie fingen den fremden Rudelgesang auf und wurden selbst "gehört". Das Rudel verhielt sich zuerst abweisend.
Misstrauen. Erschöpft. übermittelte Shona an Tirgatao, wurde aber fast von Hishns nagender Hunger in den Eingeweiden verdrängt. Die Amazone selbst spürte Besorgnis in den fremden Gedanken. Sie bat die fremden Wölfe, sich ihnen nähern zu dürfen. Erklärte, dass sie nicht der Futterneid hergetrieben habe. Dass sie fremd sei, und froh, Graue zu treffen. Bat, im Rudelgesang zugelassen zu werden. Das Misstrauen blieb, doch schließlich gestattete das Rudel den dreien, den Abhang hinunterzuklettern.
Hishn und Shona schlichen voraus, ertasteten den sicheren Weg abwärts, und Tirgatao kletterte und rutschte hinterher. Ihr größeres Gewicht und das Fehlen von Krallen an Händen und Füßen machte den Abstieg für die Amazone gefährlicher als für ihre Begleiterinnen. Trotzdem gelangten alle drei am Fuß des Abhangs an, ohne schlimmere Verletzungen davongetragen zu haben als ein paar Schürfwunden an Tirgataos Händen.
Als sie sich umsahen, glühten ihnen zahlreiche Augenpaare entgegen. Mit Hishns und Shonas Hilfe zählte die Amazone rasch durch und kam auf 13 Tiere. Die Jährlinge und schwächeren Tiere befanden sich hinter den kräftigen Männchen und Weibchen, die sich den Eindringlingen direkt entgegenstellten.
Tirgatao sank auf ein Knie herab, um sich auf Augenhöhe mit den Wölfen zu befinden, und neigte leicht den Kopf.
Ihr ehrt mich, ihr Grauen sandte sie dem Rudel als Dank, dass sie hatte herunterkommen dürfen. Hishn und Shona verhielten sich neutral: weder aggressiv, noch unterwürfig. Bildete es sich die Frau ein, oder lockerte das die Haltung der fremden Wölfe etwas? Jedem, der diese Szene beobachtet hätte, hätte sie sehr seltsam anmuten müssen: auf der einen Seite eine knieende Frau mit zwei Wölfen, abwartend, den Geruch des Rudels einatmend und prüfend, offen und freundlich. Auf der anderen Seite ein ganzes Rudel misstrauischer Wölfe. Doch nicht nur im Verhalten unterschieden sich die Wölfe von Hishn und Shona. Nein, während die beiden weißen Wölfinnen groß gewachsen und wohlgenährt waren, schienen die Jährlinge noch nicht ausgewachsen zu sein und bei allen 13 Tieren zeichneten sich deutlich die Rippen unter dem struppig-schmutzigen Fell ab.
Ein leises, schmerzerfülltes Winseln riss Tirgatao aus ihren Betrachtungen. Hishn und Shona hatten es ebenfalls vernommen und bereits "geortet". Es kam von einer Fähe, die ein gutes Stück hinter den anderen am Boden lag, ganz in der Nähe der Leichen.
Ihr Grauen. Eine von euch leidet Schmerzen? Kann ich helfen?
Tirgatao hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sie auch schon die Antwort bekam, wenn auch nicht so, wie sie es gewünscht hätte: Mit einem tief aus der Kehle kommenden Knurren sprang der Alpharüde sie an und senkte seine Zähne in ihren linken, zum Glück durch die ledernen Unterarmschoner der Bogenschützten leidlich geschützten, Unterarm, den sie reflexartig gehoben hatte, um Kopf und Hals zu schützen. Dabei schleuderte er ihr Helfen? Zweibeiner verletzten sie erst!! entgegen, verbunden mit so viel Hass und Verzweiflung, Schmerz und Wut, dass die Amazone regelrecht zurückprallte. Im nächsten Augenblick packte sie den Wolf mit der rechten Hand an der Kehle, um ihn nach zähem Ringen, bei dem sie mitten zwischen die anderen Wölfe des Rudels hineinrollten, unter sich zu bringen. Wäre der Rüde bei bester Gesundheit und vollen Kräften gewesen, so hätte die Amazone es nicht alleine wagen dürfen. Doch gegen das geschwächte Tier konnte sie Hishn und Shona getrost außen vor lassen - was nicht so leicht war, da die beiden ihrer Freundin unbedingt helfen wollten.
Doch Tirgatao trachtete nicht danach, den fremden Wolf zu verletzen, sie wollte nur ihre Körperkraft und Gewandtheit demonstrieren, und sich so Respekt verschaffen. Als sich das Alphatier schließlich erschöpft und schwer atmend geschlagen gab, japste auch die Amazone bereits nach Luft. Zusätzlich meinte sie, jeden Knochen und jedes Knöchelchen in ihrem Körper zu spüren und von ihrem linken Unterarm floß das Blut in schweren Tropfen. Tirgatao riss einen Fetzen von ihrem ohnehin ramponierten Hemd ab und band ihn mühsam so um den Unterarm, dass die Blutung verlangsamt wurde. Später würde sie sich Zeit nehmen müssen, die Wunde zu waschen und ordentlich zu verbinden, doch jetzt gab es wichtigeres.
Hishn und Shona waren nur mühsam zurückzuhalten gewesen und hatten das Ringen leise knurrend und immer auf und ab laufend verfolgt. Jetzt stellten sie sich wieder zu beiden Seiten der Amazone auf, um sie notfalls zu unterstützen. Doch der gewonnene Kampf hatte Tirgatao Achtung verschafft. Kein Vertrauen, aber Respekt. Trotzdem ließ sich die Frau wieder vorsichtig auf ein Knie nieder, ihre protestierenden Muskeln dabei ignorierend, um den Wölfen in die Augen sehen zu können.
Wir sind nicht von hier. In meiner Heimat laufe ich mit den Grauen. Das Portal rief mich und andere Zweibeiner in dieses Land, es von der Last des Krieges zu befreien. Ihre Worte begleitete Tirgatao mit entsprechenden Bildern. Bildern, die dem Rudel besser als Worte sagen sollten, was zu sagen war. Wir sind keine Bedrohung für euch. Unsere Beute jagen wir uns selbst. Die Zweibeiner unserer Gruppe bekommen in den Städten genug. Aber ich muss die toten Zweibeiner dort hinten ansehen. Zur Sicherheit meines Rudels muss ich wissen, ob Gefahr droht.
Ob die Wölfe die Ehrlichkeit spürten oder ob sie so viel Respekt für die Kraft der Frau entwickelt hatten - Tirgatao wusste es nicht, doch zwei Wölfe traten etwas zur Seite und der Alpharüde erklärte, wenn auch mit einem knurrenden Unterton Wolfsläuferin! Sieh sie dir an. Von 12 glimmenden Augenpaaren verfolgt tasteten sich Hishn, Shona und die Amazone bis zu den Leichen vor. Sie waren noch ganz frisch, kaum verwest. Hishn rümpfte die Nase, sie fand den Geschmack und Geruch von Menschenfleisch "irgendwie bäh". Dennoch tat sie ihrer Freundin den Gefallen, mit Hilfe ihrer Schwester alle Leichen zu betrachten, zu betasten und zu beschnuppern.
Schon beim Geruch des kalten menschlichen Blutes hatte sich Tirgataos Magen merklich gehoben. Doch als sie dann vor den Leichen stand, die sie auch selbst betastete, konnte sie ein Würgen nicht mehr unterdrücken: Männer, Frauen und Kinder, jung und alt, lagen da auf einem Haufen. Allen war die Kehle durchgeschnitten worden, und so durcheinander wie sie lagen, mussten sie oben vom Abhang hinuntergeworfen worden sein. Wie ein zerlumptes Hemd, das niemand mehr braucht... Abgeschürfte Haut und gebrochene und verrenkte Glieder passten zu dieser Überlegung. Verschlimmert wurde der grausige Eindruck dadurch, dass das Rudel sein Mahl bereits begonnen hatte. Es kostete die Amazone einiges an Beherrschung, nicht ins nächste Gebüsch zu springen und dort ihren Magen zu entleeren. Stattdessen tastete sie die Leichen gründlich ab, fand aber nur zerlumpte und zerrissene Kleidung. Die Stücke mochten durch den Sturz gelitten haben, aber sie schienen auch vorher schon nicht mehr allzu gut gewesen zu sein. Geld, Waffen oder wenigstens Gebrauchsgegenstände waren nicht zu finden. Der Zahl der Leichen nach zu urteilen hatte hier eine Großfamilie oder ein kleines Dorf seinen Tod gefunden. Vielleicht Flüchtlinge... Diese hätten sicherlich ihr letztes Hab und Gut mitgenommen, soweit sie es tragen konnten. Dann musste sie wegen dieser wenigen Dinge ausgeraubt und getötet worden sein. So kurz vor der Sicherheit einer größeren Stadt! - Und wenn die Mörder aus der Stadt kamen? Wenn sie nicht noch mehr Mäuler zum Durchfüttern wollten? Nicht noch mehr mittellose Bettler auf den Straßen? - Würden sie sie deshalb töten? Sie könnten sie wegjagen... - Vielleicht haben sie das ja getan...
Als Tirgatao sich von den Leichen abwandte und ihre blutbeschmierten Hände an ihrem zerrissenen Hemd abwischte, war ihr immer noch übel. Natürlich verstand sie, dass diesem halb verhungerten Rudel jedes Fleisch recht war, das es bekommen konnte. In Askaarel ging es inzwischen für viele nur noch ums nackte Überleben. Auch für die Wölfe. Aber sie hätte dennoch gerne auf die Erfahrung verzichtet.
Mit notdürftig gesäuberten Fingern wandte sich die Amazone der Fähe zu, die Schmerzen haben musste. Sie allein war nicht aufgestanden, die Fremden zu begutachten, ja war ihnen nicht mal mit Blicken gefolgt. Tirgatao näherte sich der Wölfin sehr langsam und vorsichtig, um nicht den Beschützerinstinkt der anderen Wölfe herauszufordern. Zögerlich streckte sie der Wölfin eine Hand zum Prüfen des Geruchs entgegen.
Wolfsläuferin! kam die schwache, schmerzerfüllte Antwort, bei der die Wölfin kaum den Kopf hob.
Du ehrst mich, Graue. Du hast Schmerzen. Lass mich helfen.
Bisher hatte das Rudel sie nicht so tief in den Rudelgesang vordringen lassen, dass sie hätte spüren können, wo der Schmerz der Wölfin saß. Nach einigen langen Minuten wurde ihr der Einblick jedoch in soweit gewährt, als Bilder in ihren Geist sprudelten: die Wölfin, die Gefährtin des Alphatieres, die auf der Futtersuche in eine von Menschen ausgelegte Schlinge gerät. Die mit aller Kraft versucht, sich zu befreien, und sich dabei tiefer ins Fleisch schneidet. Die Pfote droht abgeschnürt zu werden. Doch die Schlinge ist aus schlechtem Material oder es ist ein scharfkantiger Stein in der Nähe, denn etwas reißt und die Wölfin humpelt von dannen, das Hindernis noch immer an der linken Vorderpfote. Die Rückkehr zum Rudel, bei der die anderen Wölfe versuchen, der Verletzten zu helfen. Vergeblich. Die schmerzhafte Wanderung auf der Suche nach Futter, die nur langsam vonstatten gehen kann. Die Hitze eines Fiebers. Überwältigende Schwäche in den Gliedern.
Schließlich versiegten die Bilder und Tirgatao merkte, dass sie zitterte. Sie brauchte einen Moment, sich zusammenzureißen, bevor sie sich wieder an die Wölfin wandte.
Mein Körper ist der eines Zweibeiners. Aber mein Herz ist so grau wie deines. Vielleicht kann ich die Schlinge lösen. Es wird schmerzen, aber vielleicht rettet es deine Pfote. Ich kenne auch die Kräuter, mit denen Zweibeiner Wunden schneller heilen lassen. Lass mich dir helfen
Die Amazone ließ die Hand weiter ausgestreckt und wartete ab. Noch wusste sie nicht, wie schlimm die Verletzung war, oder wie alt. Denn die Grauen dachten nicht in Stunden, nicht in Jahren. Die Verletzung war geschehen, nachdem das Rudel gezwungen gewesen war, das ursprüngliche Revier zu verlassen, aber vor der Wanderung zu dieser Stelle. Die Bilder überlagerten sich, verschwammen miteinander.
Als die Wölfin schließlich die Annäherung gestattete, tastet die Amazone den linken Vorderlauf ab. Sie fand die Schlinge in einer noch offenen Wunde, deren Fleisch sich heiß und entzündet anfühlte. Inzwischen war der Mond aufgegangen, und sein Licht reichte gerade so hin, zu erkennen, was sie tat. So löste Tirgatao mit Hilfe ihres Messers und unter dem Jaulen und Winseln der hin und wieder heftig zusammenzuckenden "Patientin" sowie dem Knurren der anderen Rudelmitglieder vorsichtig die Schlinge aus dem wunden Fleisch.
Lass mich deine Pfote noch versorgen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich die Wunden eines Grauen pflege. Es wird schmerzen, aber es hilft.
Hishn und Shona pflichteten sofort bei, "erzählten" nun ihrerseits in Bildern von den Wölfen, denen ihre Freundin schon im Tal der Amazonen geholfen hatte. Das schien der Verletzten doch Vertrauen einzuflößen, denn sie erduldete auch die weitere Behandlung, die darin bestand, die Wunde zu säubern, zu desinfizieren und mit einer Kräutersalbe einzureiben, von der Tirgatao aus Erfahrung wusste, dass die Wölfe sie gut vertrugen. Während sie der Wölfin nun noch zu trinken gab, indem sie ein Tuch in Wasser aus einem ihrer Schläuche tränkte und es dann über der geöffneten Schnauze ihrer Patientin ausdrückte, ermahnte die Amazone. Du darfst jetzt nicht an der Pfote lecken. Laufe so wenig wie möglich und lass die Wunde sich schließen. Doch die Fähe war sowieso zu schwach, sich zu erheben. Das Fieber und der Hunger.
Noch zögerte Tirgatao. Sie wollte sich Raels Ärger gar nicht vorstellen, wenn sie jetzt tat, was der Wölfin als einziges das Leben zu retten vermochte. Durfte sie die Gruppe gefährden? Nein. Aber konnte sie in dem Wissen hier fortgehen, dass diese Wölfin nicht mehr lange leben würde, ohne die Hilfe, die sie ihr zu geben vermochte? Erst recht nicht. Mit den anderen reiste sie gemeinsam und Rael war ihr wie eine Schwester, doch die Wölfe waren ihr seelenverwandt.
Hishn und Shona spürten die Zweifel, die Überlegung. Sofort stupsten beide ihre Freundin an.
Wolfsschwester. Lass sie von unserer Kraft nehmen. boten beide an, wissend, was Tirgatao vorhatte.
Nein, meine Grauen. Ohne euch bin ich in dieser Gegend verloren. Jemand hat diese Menschen getötet und ist vielleicht noch in der Nähe. Es kann sein, dass ich auf dem Rückweg nicht nur eure Sinne sondern auch eure Kraft brauche, eure Zähne und Krallen, um zu überleben. Ich muss es tun.
So kniete sich die Amazone vor die verletzte Wölfin hin, legte beide Hände an deren Wangen und sah ihr tief, tief in die Augen. Ließ die fremde Wölfin weit in ihre eigenen Gedanken vordringen und schob sich im Gegenzug in die grauen Gedanken. Noch nie hatte sie ihre Kraft auf einen Wolf übertragen. Bisher hatten immer nur die Wölfe sie unterstützt: wenn sie verletzt war, oder eigentlich zu erschöpft, um noch weiterzugehen. Dann hatte sie von ihnen pure Kraft bekommen über die Verbindung, die es vermocht hatte, sie immer noch etwas weiterzutreiben, mochten die Füße wund sein und die Lungen bersten. Jetzt wollte sie es umgekehrt versuchen. Sie hatte bei jeder Kraftübertragung auf die Wölfe gelauscht, wollte einerseits wissen, wie sie es machten, und war andererseits immer in Sorge, dass sie sich selbst verausgaben würden dabei. Lieber hätte sie mit Hishn oder Shona ausprobiert, wie es in die Gegenrichtung klappte. Am besten im heimischen Tal, falls etwas schiefgehen sollte. Dennoch. Hier war Hilfe nötig. Die Wölfin konnte nicht genesen, ohne zu fressen und zu trinken, und sie konnte beides nicht, so lange sie zu schwach war, sich aufzurappeln.
Tirgatao horchte in sich hinein, suchte die Quelle ihrer eigenen Kraft, ihre Energie. In ihren Gedanken bildete sie einen pulsierenden, glühenden Knoten, von dem aus die Energie durch ihren Körper strömte. Die Amazone lenkte einen der Ströme mühsam um, zu der Wölfin hin, in deren Körper hinein. Kaum nahm sie das Aufjaulen wahr, musste sie sich doch voll und ganz auf die Übertragung konzentrieren. Sie wusste nicht genau, wie viel Kraft sie der Wölfin geben musste. Plötzlich wurde sie an beiden Oberarmen von spitzen Zähnen gepackt und rückwärts gezerrt. Als Tirgatao in Hishns wutfunkelnde Augen blickte, erwartete sie einen Moment lang, am Nackenfell gepackt und wie ein ungehorsamer Welpe geschüttelt zu werden. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie gar kein Nackenfell hatte und auch ein wenig zu groß war, um von ihrer Freundin durchgeschüttelt zu werden.
Wolfsschwester! Zu viel! Womit willst du laufen? Bringst dich in Gefahr!
Der Körper der Amazone fühlte sich müde und schwer an, und es dauerte einen Moment, bis ihr gerade noch mit der anderen Wölfin verbundener Geist den Tadel verarbeitet hatte. Die fremde Fähe winselte noch, weil die Übertragung schmerzhaft gewesen war - Tirgatao kannte die Hitze und das Brennen nur zu gut - doch sie konnte sich jetzt aufrappeln und langsam zu den Leichen trollen, um ihren Hunger zu stillen. Die Amazone dagegen lehnte sich an einen Stein, legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Nur ein bisschen schlafen... Im nächsten Moment wurde sie von Shona in die Seite gezwickt.
Wolfsschwester! Mit Rudel reden. Fragen!
Richtig, da war ja noch etwas. Sie wollte das Rudel doch etwas fragen. Deshalb hatte sie ja mit ihnen reden wollen. Aber es war so mühsam, diese Gedanken zu sammeln. Lange Minuten vergingen, bevor Tirgatao in der Lage war, sich direkt an das Rudel zu wenden. Die Wölfe waren jetzt freundlich ihr gegenüber, immerhin hatte sie einer der ihren geholfen.
Ihr Grauen. Meine Begleiter und ich, wir sind fremd in diesem Land. Und doch müssen wir es durchstreifen, um die Ursache der Kämpfe und des Hungers und des Leidens zu finden. Ihr streift seit Menschengedenken durch die Wälder und Ebenen, über Bergpässe und durch Täler. Eure Pfoten haben Pfade berührt, die kein Mensch kennt. Erinnert euch für mich an diese Pfade, an verborgene Wege, auf denen wir sicher reisen können. Auf denen es Wasser gibt. Auf denen Pferde gehen können. Wir werden diese Wege niemandem sonst verraten. Nur zu unserer eigenen Sicherheit werden wir sie nutzen.
Das Rudel schien eine Weile zu überlegen, doch dann kamen alle ganz erwachsenen Wölfe - mit Ausnahme der verletzten Fähe, die ihren Hunger stillte - herbei, bildeten einen Kreis, in den Hishn, Shona und Tirgatao aufgenommen wurden, und legten die Köpfe in den Nacken. Wolfsläuferin! Laufe mit uns! Heule mit uns! Es erhob sich ein vielstimmiges Geheul, bei dem auch Hishn, Shona und Tirgatao nicht fehlten. Die Amazone hatte keine Zeit, die Tonlage und Lautfolge der einzelnen Wölfe zu identifizieren, denn ein zweites Mal schwappten Erinnerungen und Bilder in ihren Kopf. Diesmal weitaus mehr als zuvor, denn alle beteiligten Rudelmitglieder zeigten ihr ihre Erinnerungen und die Erinnerungen ihrer Vorfahren an von Wölfen genutzte Pfade in Askaarel. Wo immer jemals ein mit diesem Rudel verwandter Wolf gestreift war, gab es Erinnerungen, die jetzt an Tirgatao, Hishn und Shona weitergegeben wurden. Alte Erinnerungen, die von anderen Wölfen an diese Generation weitergegeben worden waren, waren blasser und verschwommener als die neueren Erinnerungen.
Als der Strom der Bilder und Gedanken schließlich versiegte, glaubte Tirgatao, ihr Kopf müsse bersten. Eigentlich kannte sie Kopfschmerzen nur nach einem Schlag auf den Kopf, doch jetzt wurde ihr regelrecht übel, vom Pochen in ihrem Kopf. Gleichzeitig fühlte sie sich, als hätte jemand ihren Kopf zwischen zwei Mühlsteine gequetscht. Nur mühsam vermochte sie die Augen zu öffnen. Doch sie sah ganz verschwommen. Feuchte, rauhe Zungen glitten über ihr Gesicht und sie fühlte sich zu schwach, sie abzuwehren. Waren des zwei oder zehn? Sie wusste es nicht. Die Amazone schloss die Augen, überließ sich dem Schlaf, für den Augenblick unfähig, die empfangenen Bilder zu ordnen.
Doch als Tirgatao von sanften Nasenstübern in die Seite geweckt wurde, schien es ihr, als wären erst Sekunden vergangen, seit sie die Augen geschlossen hatte. Sie war müde, ihr Kopf schmerzte, ihr Unterarm pochte, ihr Magen knurrte, die Lippen waren trocken und rissig.
Wolfsschwester. Feuerfrau wird schon warten. Bald hell!
Für die Augen der Amazone war es noch genauso finster wie den Rest der Nacht, doch wusste sie auch ganz genau, dass die Wölfinnen sich niemals irrten. Es musste also auf den Morgen zugehen. Wäre sie selbst nicht so erledigt, so könnte sie am Stand der Sterne bestimmen, wann die Sonne aufgehen musste. Mühsam rappelte Tirgatao sich auf, und als sie schließlich auf ihren beiden Füßen stand, schwankte sie leicht.
Das Rudel bemerkte, dass ihre neuen Freunde aufbrechen wollten, und kam herbei, sich zu verabschieden. Auch die verletzte Fähe war dabei. Noch war sie fiebrig, doch ihr Magen war gefüllt und aus ihren Augen sprach wieder der Überlebenswille des Wildtieres. Der Geruch nach menschlichem Blut und der Anblick der im Laufe der Nacht weiter "angespeisten" Leichen war jedoch fast zu viel für den Magen der Amazone, der nicht wusste, ob er sich umdrehen oder heben solltewohl er doch vor Hunger schon beinahe in den Kniekehlen hing.
Nach dem kurzen aber freundlichen Abschied stand der Aufstieg bevor. Irgendwie mussten Tirgatao, Hishn und Shona den Abhang wieder hinauf, den sie in der Nacht hinabgeklettert und -gerutscht waren. Es wurde ein langwieriger und anstrengender Aufstieg. Die Amazone war noch immer müde und kraftlos und wäre wohl ohne die Hilfe der Wölfinnen, in deren Fell sie sich festkrallen konnte, nicht hinaufgekommen. So kletterten und krochen sie zu dritt nach oben, nicht ohne gelegentlich zu straucheln und wieder ein Stück hinunterzurutschen.
Als der Abhang endlich überwunden war, hatte auch die Hose der Amazone kein gesellschaftsfähiges Aussehen mehr. Zwar war sie noch vorhande, aber schmutzig und hatte an vielen Stellen kleinere und größere Risse. Um ihre Begleiter noch rechtzeitig einzuholen, hätte Tirgatao nicht nur traben sondern vermutlich rennen müssen. Doch das lag im Moment außerhalb ihrer Möglichkeiten. Sie nötigte sich also zu einem flotten Trab, den sie aber nicht durchgehalten hätte, hätten ihr Hishn und Shona nicht ein wenig von ihrer Kraft abgegeben. Im Gegensatz zu der Amazone wussten die beiden Wölfinnen so eine Übertragung recht genau zu dosieren.
Trotz dieser Anstrengungen ging die Sonne auf, noch bevor die drei den Lagerplatz ihrer Begleiter erreicht hatten. In der Annahme, dass K'Ehleyr und die anderen nach ihrem Wunsch handelten, auf jeden Fall vorauszugehen, überlegte Tirgatao, wie sie am besten in die Stadt kommen sollte. Eine abgerissene Fußgängerin in Begleitung von zwei wilden Tieren ließen die Wachen bestimmt nicht durch das Tor. Die Amazonen kramte einige Lederriemen aus ihrem Gepäck und bat dann Hishn und Shona zu sich.
Meine Grauen. Damit wir die anderen erreichen können, dürft ihr nicht als Wölfe zu erkennen sein. Bitte, lasst mich euch Halsbänder anlegen. Ich entferne sie wieder, sobald wir die Stadt verlassen haben, und ich werde niemals daran ziehen. Doch Hunde haben oft Halsbänder. Ein Tier mit Halsband gilt als zahm.
Der Widerspruch der Wölfinnen war heftig. Lieber wollten sie mit ihrer Freundin um die Stadt herumschleichen. Den Einwand, dass dort womöglich Diebsgesindel zu finden seien, oder diese seltsamen Kreaturen, deren Angriffe sie schon des öfteren hatten abwehren müssen, fruchtete nichts. Hishn und Shona waren überzeugt, mit allen Gefahren fertigzuwerden. Sie würden ihre Freundin beschützen. Aber sich an die Leine legen lassen wie ein gemeiner Hund, das würden sie nie! Da half auch die Bemerkung nichts, dass gar keine Leine an die Halsbänder kommen sollte.
Schließlich resignierte Tirgatao. Sie war müde, sie hatte Hunger, der Biss an ihrem Unterarm musste endlich richtig versorgt werden, sie wollte Rael einholen und sie hatte nicht die Energie, sich weiter mit Hishn und Shona zu streiten. Es musste eben versucht werden. Damit wenigstens ihre abgerissene Erscheinung nicht allzu auffällig wurde, trank die Amazone etwas Wasser, befeuchtete ihre aufgesprungenen Lippen, kniff sich in die blassen Wangen, damit sie sich röten sollten, und hüllte sich dicht in ihren Umhang, so dass Hemd und Hose nicht mehr zu sehen waren. Dann zog sie noch die Kapuze über das Haar und machte sich gemessenen Schrittes, wie ein Wanderer, auf den Weg.
Als sie das Tor erreichte, wurde sie angerufen. Offenbar war Tirgatao nicht die einzige, der aufgefallen war, dass alle anderen Stadtbesucher einen weiten Bogen um sie und ihre Wölfe machte. Ob es an den Wölfen oder an Pfeil und Bogen lag, die sichtbar waren, wusste sie nicht.
Heda! Diese Wolfskrüppel kommen uns nicht in die Stadt! Und gleich stimmten andere Stimmen ein Abgestochen gehört das Viechzeug! Reißen unser Vieh!
Tirgatao gab ihrem Gesicht einen Ausdruck, als wisse sie gar nicht, was diese Leute wollten. Seht ihr nicht ihre Fellfarbe? Sehen so wilde Wölfe aus? Diese Tiere sind zahm und begleiten mich schon seit Jahren. Seht her! Ares, verzeih die Notlüge. Ich muss deine Geschöpfe schützen. Die Amazone stieß, da Hishn und Shona den schreienden Menschen zur Seite ausgewichen waren, einen schrillen Pfiff aus und klopfte sich unter dem Umhang mit der Hand auf den Oberschenkel. Hier! Bei Fuß! rief sie dazu, während sie gleichzeitig eine Bitte in Gedanken übermittelte. Bitte, bitte, tut so, als wärt ihr zahm. Sie versuchen sonst, euch zu erschlagen, und wir kommen nicht zu den anderen. Kommt bitte her!
Schon bei dem Pfiff waren Hishn und Shona lauschend stehen geblieben, doch jetzt kamen sie getrabt wie die brävsten Schoßhündchen, hielten neben Tirgatao an und sahen schwanzwedelnd zu ihr auf. Die Amazone ließ sich davon nicht täuschen, sie hatte das rachsüchtige Glitzern in Hishns Augen sehr wohl gesehen und wusste, dass die Wölfin sich für diese Schmach, als Haushund zu gelten, noch revanchieren würde.
Seht ihr? Sie hören auf's Wort.
Zweifel an der Wildheit dieser Wölfe schien sich allgemein breitzumachen, und da niemand mehr gegen die Tiere sprach, ging Tirgatao langsam mit ihnen durch's Tor in die Stadt. Jeder Schritt wurde ihr wieder schwer, denn die Kraft, die sie von Hishn und Shona erhalten hatte, war fast aufgebraucht. Die beiden Wölfinnen ließen sich unter Protest überreden, "bei Fuß" zu gehen, und dabei nach der Fährte der anderen zu schnuppern. Schließlich witterten sie etwas Feuerfrau! und schlugen die entsprechende Richtung ein. Tirgatao ließ sich von ihnen leiten, denn ihre Beine fühlten sich inzwischen bleischwer an, ebenso ihre Lider. Ihr Magen dagegen war so leer, dass sie meinte, das Knurren müsste mindestens drei Häuser weiter noch zu hören sein...
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