So ganz konnte Tirgatao noch nicht glauben, was eben passiert war. Hatte Eomer tatsächlich einfach nur zugesehen, während sie zu dritt Traumtänzer von ihrem Oberkörper, der im Übrigen ziemlich schmerzte, heruntergeschoben und -gezogen hatten? Und war er dann wirklich einfach mit dem Bauern abgezogen, um den "Fang", wie er es nannte, selbst K'Ehleyr präsentieren zu können?!? Noch immer war die Amazone ob dieser kaltschnäuzigen Unverfrorenheit sprachlos. Vielleicht taten auch die Schmerzen das Ihrige dazu.
Er wird sich für das Pferd revanchieren, aber sicher doch! Das war dann wohl etwas zu viel Vertrauensvorschuss in die Gruppe... spottete die unangenehme innere Stimme, die Tirgatao im Moment wirklich gar nicht brauchen konnte. Mit einem unterdrückten Stöhnen, begleitet von leisem Winseln und Jaulen der Wölfinnen, rollte sich Tirgatao herum und stand langsam auf.
Schon gut, meine Grauen. Das sind meine Rippen, nicht eure, die da wehtun... beruhigte sie Hishn und Shona, bevor sie kurz ihren Oberkörper abtastete. Es schien zum Glück nichts gebrochen zu sein, aber einige Rippen waren mit Sicherheit geprellt. Und ein hübsches blauviolettes Muster bekommst du sicherlich auch... - Da freu ich mich jetzt aber drauf!
Nun, es half alles nichts, das Seil mit dem Wurfanker musste aus dem Baum raus. Mit zusammengebissenen Zähnen und unter dem Japsen und Knurren von Hishn und Shona, die für die übermittelte Schmerzen alles andere als dankbar waren, machte sich die Amazone an den Aufstieg. Bereits nach kurzer Zeit hatte sie das Seil gelöst und war nun dabei, es vor dem Abstieg wieder aufzuwickeln, als sie aus der Richtung des Lagers jemanden Eomers Namen brüllen hörte. War es K'Ehleyr? Sie war sich nicht sicher. Aber niemand schrie einen Namen derart hinaus, wenn nicht wirklich Not am Mann war!
Hishn und Shona, die bisher vollauf auf ihre Wolfsschwester konzentriert gewesen waren, richteten ihre Aufmerksamkeit wieder ins Unterholz, witterten und lauschten, während Tirgatao so schnell sie konnte aus dem Baum herabstieg, das aufgerollte Seil über der Schulter. Kaum berührten ihre Füße den Boden, lief die Amazone los, in Richtung Lager. Schon nach den ersten Schritten wurde sie von den beiden Wölfinnen überholt, die etwas Neues aus der Richtung des Lagers gewittert hatten. Einen Geruch, den sie nicht kannten.
Bald verlor Tirgatao erst Hishn, die größer und damit auch schneller war als andere Wölfe, und dann auch Shona aus den Augen und konnte nur noch über die gedankliche Verbindung herausfinden, was die beiden gerade sahen. Die Amazone wechselte vom schnellen Trab in einen Sprint, obwohl sie das Gefühl hatte, als risse ihr die Anstrengung die Lunge aus dem malträtierten Oberkörper. Meine lieben Schmerzen, verzupft euch! Ihr könnt meinetwegen nachher wieder auftauchen, wenn ich sicher bin, dass die anderen in Sicherheit sind! - DAS wird mit Sicherheit Wirkung zeigen. Jetzt laufen sie vor Angst weg!
Die Zähne aufeinander gepresst, die Nasenflügel geweitet, rannte Tirgatao weiter. Hishn und Shona hatten die neuen Gerüche weiter aufgeschlüsselt. Es schienen Tiere zu sein. Und eine Bedrohung ging von ihnen aus, soviel spürten die Wölfinnen bereits. Hishns und auch Shonas Sprünge wurden weiter, das Lager war in Gefahr! Ein Knurren stieg in Tirgataos Kehle auf und verstärkte den Schmerz in ihrer Brust. Dennoch konnte sie nicht anders, denn gerade hatten Hishn und Shona begonnen zu knurren, leise und tief.
Hishn hatte schon fast das Lager erreicht. Obwohl die Amazone Angst um das Leben der Wölfin hatte - noch immer wussten sie nicht, welche Gefahr dem Lager drohte - wusste sie auch, dass sie nicht die geringste Chance hatte, die komplett auf Kampf gepolte Wölfin jetzt noch aufzuhalten. Es würde in einen Machtkampf ausarten, der Hishn ablenken und ihren Tod bedeuten konnte. Nein, sie konnte nur alle Götter bitten, ihre Hand schützend über ihre liebste Freundin zu halten.
Im nächsten Moment brach Hishn aus dem Unterholz. Die beiden knurrenden Geschöpfe sehen und auf das am nächsten stehende umzuschwenken geschah in Gedankenschnelle. Die Wölfin ließ sich keine Zeit zu einer Drohgebärde, zu weit waren diese Tiere schon in das Lager vorgedrungen. Aus vollem Lauf sprang Hishn ab, den Rachen weit geöffnet. Ihr Ziel war die Kehle des anderen Tieres. Spitze Zähne durchstießen ledrige Haut, die kräftigen Kiefer malmten und Wolf und Gegner überschlugen sich. Hishn hatte die Kehle nicht hundertprozentig getroffen, das Tier wehrte sich noch. Während Hishn versuchte, den tödlichen Biss anzusetzen, ohne selbst gebissen zu werden, brach auch schon ihre Tochter Shona aus dem nahen Unterholz und sprang. Die Kehle war "besetzt" und so verbiss sich die jüngere Wölfin in den weichen Bauch des Tieres, riss mit aller Kraft Fleischfetzen aus dem zappelnden Leib.
Tirgatao erlebte den Kampf mit, als wären es ihre Zähne, die die ledrige Haut durchbohrten, als spritzte das Blut in ihr eigenes Gesicht, als wäre es ihr Körper, der sich immer wieder winden musste, um nicht in Reichweite der spitzen Zähne zu kommen. Die Amazone lief noch immer, so schnell sie nur konnte, doch bekam sie kaum noch Luft. Schließlich musste sie ihren Lauf verlangsamen, um wieder zu Atem zu kommen. Am Rand des Lagerplatzes angekommen, sah sie zuallererst zu Hishn und Shona. Ihr Gegner zuckte nicht mehr, Kehle und Bauch waren nur noch eine blutige Masse, die weißen Schnauzen trieften von Blut, zwei gelbe Augenpaare glitzerten gefährlich.
Meine Grauen. Ein guter Kampf. Ein guter Sieg. Aber es ist genug. Kommt nicht vor die Waffen der Zweibeiner!
Die Amazone näherte sich langsam und schwer atmend dem Lager, das nun eher ein Kampfplatz war. Sie würde das zweite Tier notfalls mit den beiden Messern angreifen, die sie gerade aus ihren Stiefeln zog, aber sie wollte nicht riskieren, dass Hishn und Shona unter die Waffen ihrer Begleiter gerieten, in dem Versuch, weitere Eindringlinge zu töten. Shona schien auf Tirgatao hören zu wollen, doch Hishn knurrte noch immer, drehte sich langsam von dem Kadaver weg...
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