Beitrag #6
Weiter ging er, immer weiter, auch wenn jeder Schritt eine Qual für ihn war. Er mußte SIE einfach finden. Ohne SIE war sein Leben sinnlos. Nicht antriebslos, oh nein, das nicht. Denn SIE zu finden trieb ihn an. Im Grunde war es auch nicht völlig sinnlos, war der Sinn in seinem Leben schließlich, SIE endlich wiederzufinden. Denn SIE war weg, fortgerissen aus seinem Leben. Die einzige Frau, die ihn jemals geliebt hatte. Ihn, den Buckligen mit den krummen Beinen und den halben Ohren.
Er schüttelte den Kopf, um die aufsteigenden, eher düsteren Erinnerungen an seine Zeit in den Folterkellern der Meister zu verscheuchen. Allerdings es war längst zu spät, denn die Erinnerungen waren da und würden es bis zu seinem Lebensende auch bleiben. Jeden Tag waren die Meister zu ihm gekommen, laut polternd, mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen und hatten ihre Kunst an ihm erprobt. Maschinen, Werkzeuge, Magie... Fast jeder seiner Knochen war gebrochen gewesen. Unzählige, nicht ausgeheilte, teils eiternde Schnitt- und Brandwunden hatten seinen Körper bedeckt. Der Schmerz war sein ständiger Begleiter gewesen. Niemals fort, sondern immer da. Lauernd, abwartend, jederzeit bereit, ihn zu überwältigen. Am Anfang hatte er seinen Schmerz noch laut hinausgebrüllt, aber am Ende waren seine Stimmbänder so geschädigt, daß er nicht einmal mehr dazu in der Lage war. Selbst diese kleine Erleichterung hatten die Meister ihm genommen.
Die Meister verstanden ihr Handwerk. Sie konnten jeden brechen, alles war nur eine Frage der Zeit, und so hatten sie auch ihn gebrochen. Körperlich wie geistig. Sie hatten erfahren, was sie von ihm wissen wollten. Dann hatten sie ihn weggeworfen, wie ein altes Spielzeug, welches durch ein Neues ersetzt wurde. Oder wie ein Stück Abfall. Genau das war er zum Schluss gewesen, ein menschliches Stück Abfall.
Allerdings... Manch einer konnte auch ein Stück Abfall noch gut gebrauchen. Und so war sein Martyrium noch nicht zu Ende gewesen. Diesmal war es der süße Schmerz des Lebens, der monatelang seinen geschundenen Körper umschmeichelt hatte. Denn an den dunklen Orten, an dem menschlicher Abfall seinen letzten Ruheplatz findet, dort finden sich auch dunkle Gestalten. Nekromanten, Quacksalber, Dämonenbeschwörer, Nekrophile... All das Gesocks, das seinem Handwerk lieber unentdeckt nachgeht.
Er hatte Glück gehabt, denn er fiel einem Quacksalber in die Hände. Und zu seiner unbändigen Freude verstand dieser auch noch sein Handwerk. Bis zu einem gewissen Grad jedenfalls. Es hatte lange Monate voller Schmerzen gedauert, bis er wieder auf seinen eigenen Beinen hatte stehen können, so krumm sie nun auch sein mochten. Zumindest konnte er wieder stehen. Zwar nicht aufrecht, das verhinderte sein krumm und schief zusammengewachsenes Rückrat, aber er konnte stehen.
Von diesem Moment an war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er auch allein gehen konnte. Sein Gang wirkte zwar nicht mehr so geschmeidig wie früher, doch zumindest war er in der Lage zu gehen. Auch wenn ihm jeder Schritt Schmerzen bereitete und damit an seine Zeit bei den Meistern erinnerte. Welch ein kleiner Preis dafür, doch nicht den Styx überqueren zu müssen. Er war am Leben. Und wer am Leben war, konnte sich Rachegedanken machen. Und wer sich Rachegedanken machen konnte, der konnte diese Rache auch planen. Und wer seine Rache planen konnte, der konnte diese auch ausführen. So er sich denn bewegen konnte. Aber genau das konnte er. Er konnte sich bewegen. Also würde er Rache nehmen. Auch wenn es vermutlich noch Jahre dauern würde, aber er würde sich an den Meistern rächen.
Lange Zeit hatte nur dieser eine Gedanke sein Leben bestimmt: Rache! Dann war SIE in sein Leben getreten und alles war anders geworden. SIE hatte hinter sein Äußeres gesehen, hatte nicht nur den bemitleidenswerten Krüppel erblickt, sondern sein wahres Ich erfasst. SIE hatte gemocht, was SIE dort fand, und sich in ihn verliebt. Hatte ihn von seinen dunklen Gedanken befreit, seine Schmerzen gelindert und seinem Leben einen neuen Sinn gegeben. Das Leben war für ihn wieder lebenswert geworden und dank ihr war er geradezu wieder aufgeblüht. Er hatte sich fast gefühlt wie vor seinem unfreiwilligem Besuch in den dunklen Kellern der Meister. In dieser Zeit dachte er nur noch selten an diesen Besuch zurück, und wenn er es tat und der Schmerz ihn überkam, dann war SIE da und half ihm über diese tristen Gedanken hinweg. Ein Jahr hatten sie zusammen verbracht, das schönste Jahr seines Lebens.
So abrupt die Freude zurück in sein Leben gekehrt war, so schnell wurde sie ihm auch wieder genommen. Sklavenhändler hatten ihre kleine Farm überfallen und SIE mitgenommen. Er war im Dorf gewesen und hatte Vorräte für ihren Jahrestag eingekauft. Als er zurückkam, war ihre Hütte verwüstet und SIE weg. Aber SIE hatte sich nicht kampflos ergeben, einem der Angreifer hatte SIE den Leib aufgeschlitzt. So hatte er ihn gefunden, mit dem Tode ringend, die Gedärme aus dem Leib hängend. Im Austausch gegen einen schnellen Tod hatte der Sterbende ihm verraten, wie die Reiseroute der Sklavenhändler aussah. In ungefähr einem Jahr sollten sie in Rom, der Hauptstadt des Imperiums, sein. Dort würden sie ihre Ware verkaufen.
Und hier war er nun, in Rom, in der Nähe des Hafens, wo einer der Sklavenmärkte sein sollte. Aufmerksam sah er sich um, als ihn eine heruntergekommene Gestalt leise aus einer dunklen Seitengasse anzischte: "Hey du!" "Wer... Ich?"
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