Lydia betrachtete den Ork aufmerksam während er sprach. Auch er hatte wie so viele eine Geschichte hinter sich, über die er offensichtlich nicht gerne sprach. Das kannte sie. Auch ihr war der Weg nach Hause für immer versperrt, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Doch trauerte sie dem nicht nach. Ihre Heimat war die Otta und keine einzige Sekunde wünschte sie sich dorthin zurück, wo sie einst hergekommen war. Man musste die Vergangenheit dort lassen, wo sie hingehört, sonst steht sie der Gegenwart ständig im Wege. Das hatte sie gelernt und das lebte sie. Im Hier und Jetzt ging es ihr gut und sie würde alles in ihrer Macht stehende dafür zu tun, dass das auch weiterhin so blieb.
Für kurze Zeit umwölkte sich die Stirn ihres Gegenübers, doch schob er seine Sorgen schnell beiseite und lud sie in einen Tempel ein, an dem sie mehr von seiner Vergangenheit erfahren könne. Die Thorwalerin war neugierig geworden. Ein Ork und ein Tempel? Welchem Gott er wohl diente? Sie machte sich im Stillen eine Notiz, dass sie bei Gelegenheit diesen Ort aufsuchen würde. Als er sie nach der Otta fragte und ihr erzählte, er sei beim Fischerfest anwesend gewesen, hellte sich ihre Miene plötzlich auf. Genau, daher kannte sie auch den Namen Yxor. Quambo hatte ihr erzählt, dass Rondrija sich einen Ork geangelt hatte und mit ihm abgezogen war nach ihrer Schicht. Da saß sie also demjenigen gegenüber, der die junge Schankmaid in einer Nacht für drei Tage kampfunfähig gemacht hatte. So lange kam sie nämlich hinterher nicht mehr zur Arbeit. Mit einem süffisanten Lächeln betrachtete sie Yxor, der sich sichtlich genussvoll zurücklehnte.
„Ihr interessiert Euch also für die Thorwaler? Nun, nennt uns „freie Wilde“. Wir dienen weder einer Regierung noch den Göttern. Wenigstens nicht bedingungslos. Einzig unser Hetmann entscheidet manchmal, was zu tun ist. Doch selbst er hat es schwer mit uns. In unserem Land ist jeder frei, einzig der Natur sind wir unterworfen. Ihre Gesetze achten wir. Außerdem sind wir speziell in der Otta ein bunt gemischter Haufen und fragen nicht nach, ob jemand ein echter Thorwaler ist oder nicht. Ob Zwerge, Trolle, Elfen oder andere Lebensformen, früher oder später sind sie unserem ungebändigten Freiheitswillen und unserer Lebensfreude verfallen. Wenn nicht, dann halten sie es gar nicht bei uns aus und verschwinden schnell wieder.
Uns interessieren keine Konventionen, die hohe Politik langweilt uns eher. Sie legt viel zu viele Fesseln an. Wir handeln stets, wie es uns gefällt. Das mag manchen sauer aufstoßen, doch auch das kann uns nicht aus der Ruhe bringen. Wer mit uns nicht zu Recht kommt, der kann’s bleiben lassen. Und Leute, die zum Lachen die Katakomben aufsuchen, die verzweifeln an uns. Viele nennen uns unfreundlich und arrogant, weil wir stets aussprechen, was wir denken. Aber auch damit haben wir keine Probleme. Ich bin kaum Jemandem begegnet, der so sorgenfrei lebt wie unser Volk das tut.“
Nun hatte sie aber eine lange Rede gehalten. Dass sie Yxor damit langweilen könnte, auf den Gedanken kam sie gar nicht. Schließlich hatte er gefragt und musste damit rechnen, dass die Antwort etwas ausführlicher ausfallen konnte.
„Wofür interessiert Ihr Euch denn im Speziellen, werter Yxor? Euer Grinsen sieht sehr genießerisch aus. Ist es unser schmackhaftes Essen? Oder ist es eher die Art und Weise wie und von wem es serviert wird?“
Sie konnte ein Schmunzeln nicht verbergen. Noch immer war niemand an ihren Tisch gekommen, bei dem sie etwas zu Essen bestellen konnte. Ungeduldig klopfte sie auf den Tisch und warf einen Blick in Richtung Ecthelion, bevor sie wieder zu Yxor sah.
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