RE: Die Katakomben Roms
Das Lied brannte in ihm und er sang mit ihr, die Worte erschienen in seinem Leben als hätte er sie immer schon gekannt. Er fühlte das Lied als eine Art Impuls, ausgehend von seinen Geschwistern und IHR. Die Melodie endete und nach und nach verstummte auch seine Familie, während sich in Lys' Magen ein ungeheurer HUNGER breitmachte. Fressen..., fressen...
Das kleine Instrument schimmerte leicht in der Dunkelheit und Lys drehte es hin und her, um es genauer zu betrachten. Es wirkte sehr zerbrechlich, und war gerade mal so groß wie zwei Daumen. Es schien, als sei die Flöte aus einem sehr leichten Metall gefertigt, doch waren keine Schmiedespuren zu erkennen, noch eine Gußnaht. Vorsichtig steckte er sie weg und notierte sich im Geiste, möglichst bald ein Halsband hierfür aufzutreiben.
"Ja, kleine Schwester. Eines Tages werde ich sie besuchen. Und ich habe das Gefühl, dass dies der Moment sein wird, an welchem SIE mich endgültig in ihre wundervollen Arme schließen wird." Er lächelte und sah Fledermaus hinterher, welche mit flinken Füßen nach und nach zwischen den Strängen der Spinnennetze verschwamm. "Ich werde ganz IHRes sein. Endlich."
"Und was wird dann aus mir...?", flüsterte Tantima in seinem Geist und er spürte förmlich ihre gespielte Verunsicherung. "Mach' Dir keine Sorgen, kleine Freundin. So wie ich mich kenne, hast Du ja vielleicht auch bald genug von mir.", erwiderte Lys und lachte.
Die Stunden vergingen, in denen sie zu zweit durch die Katakomben wanderten. Lys' hatte sein ursprüngliches Ziel noch vor Augen und es war erstaunlich, wie leicht ihm jetzt jede Orientierung fiel. Sein Sinne schienen für die Dunkelheit geschaffen und nicht nur sah er alle Details der alten Gemäuer und geschlagenen Gänge, auch sein Gehör eröffnete ihm völlig neue Dimensionen der Wahrnehmung. Und nicht zuletzt war da ständig diese Verbindung zu seinen Geschwistern, diesen kleinen verlorenen Seelen in der Tiefe, und natürlich IHR. Sein Geist umschwirrte sie ständig und voller Neugier und Zuneigung nahm er alle Gefühlsregungen seiner Mutter in sich auf.
Auch die Melodien, der er nun summte, hatten sich verändert. Sie vermochten einem Außenstehenden als finster und grausam erscheinen, doch für Lysander hatten sie eine ganz neue Farbenvielfalt und Verlockung erlangt. Außerdem wisperten die Echos immer neue Varianten der Gewalt, des Hungers und der Gier nach Feuer um ihn herum. Er fühlte sich beschwingt und frei.
Tantima sprach kaum noch ein Wort mit ihm, sie schien immer wieder zu dösen; manches Mal krabbelte sie in seine Haare, um sich dort zu putzen oder seine Kopfhaut zu untersuchen. Dass sie ihn spannend fand, hatte sie augenscheinlich nicht nur so dahin gesagt. In der Tat verband die beiden eine innige Vertrautheit. Er spürte, dass er Gedanken, Eindrücke mit ihr teilen, aber auch vor ihr verbergen konnte.
Bald schon erreichten die beiden ihr Ziel: Eine große, lange Kammer nahe der Oberfläche, verhältnismäßig trocken, warm und sauber. Sie war voller Menschen, deren Zahl und Zusammensetzung Lys schon eine halbe Stunde vor seiner Ankunft erhört hatte. Auch spürte er, dass der Lärm und der Geruch von Petrolium eine unangenehme Unruhe bei IHR auslöste, fast so, als wäre SIE verärgert über diese Störung. Giftige Worte schallten durch seinen Geist, angespornt durch seine Geschwister. Doch er übermittelte ihnen ebenfalls Bilder. Sanfter, angefüllt von dem Gefühl der Unterstützung und Hilflosigkeit. Keine Gefahr...
Er betrat den Raum durch einen winzigen Seitentunnel und das schummrige Licht der Öllampen blendete ihn auf einmal so sehr, dass er einen Arm heben und seine Augen bedecken musste. Blinzelnd, halb blind, tastete er sich vorwärts, vorbei an Feldbetten und Decken auf dem Boden, vorbei an jammernden Kranken und sich leise unterhaltenden alten Müttern. Tantima flüsterte ihm unentwegt eine Beschreibung der Umgebung ins Ohr, ihre vielen Augen nahmen in einem Augenblick das zehnfache dessen wahr, was ihm selbst aufgefallen wäre - und sie war weniger lichtempfindlich.
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