Tirgatao sah ezekiel, Rael und Shona einen Moment nach, dann machte sie sich in Hishns Begleitung auf den Weg in Richtung Tor. Sie war noch immer erschöpft, die Ruhepause hatte nicht ausgereicht, um ihre Energie völlig wiederherzustellen. Doch es war weitaus besser als am Morgen. Ihre linke Hand schmerzte noch und sie würde weder den Bogen noch die in den Stiefeln verborgenen Messer so nutzen können, wie sie es gewohnt war, doch es musste eben gehen.
Eigentlich wollte sie nur ihre Reisegefährten finden, die zum Tor gegangen waren, doch noch bevor sie wirklich weit gekommen war, vernahm die junge Frau bereits entfernten Kampflärm. Offenbar würden sie keine Wahl haben, als sich an dieser Schlacht zu beteiligen. Wenn an der Mauer bereits gekämpft wurde, wie groß wären dann noch die Chancen für die Gefährten, diese Stadt zu verlassen? Sie hatten Reittiere, die sie auch benötigten, und Tirgatao sah keinen Weg, hier noch ohne Kampf wegzukommen.
Hishn war unruhig, sie witterte in alle Richtungen und drängte gleichzeitig nach vorne und zum Rückzug. Die Jagd rief nach ihr, doch sie musste ihre Tochter und ihre Rudelschwester schützen. Für die Amazone stellte sich ein ähnliches Problem: sie war ein Sproß eines Volkes von Kämpfern, die Priesterin des Ares, eine Amazone durch und durch und damit gab es für sie in einem Kampf nur einen Platz: an vorderster Front, mitten im Getümmel. Doch gleichzeitig hatte sie eine Verantwortung Hishn und Shona gegenüber, die sie nicht unnötig in Gefahr bringen durfte. Die beiden verstanden nicht, auf was sie sich einließen. Dies waren keine Wegelagerer, die man aus dem Hinterhalt anspringen und töten konnte, dies waren Krieger, gepanzerte und bis an die Zähne bewaffnete Kämpfer. Was sollte ein Wolf gegen Pfeile und Schwerter ausrichten?
Für einen Augenblick sah Tirgatao vor ihrem inneren Auge Hishn und Shona leblos am Boden liegen, mit Pfeilen gespickt und von Schwertern zerhackt. Tränen traten der jungen Frau in die Augen. Das durfte nicht passieren. Das hier, das war kein Kampf für Wölfe. Und doch wusste sie, dass sie nicht die geringste Chance hatte, Hishn und Shona zurückzuhalten, wenn sie sich selbst ins Getümmel warf. Wenn sie die Wölfinnen schützen wollte, würde sie sich verstecken müssen, in einer Scheune, einem verfallenen Haus, einem Stall, einem Erdloch, egal, nur weit weg von jedem Kampf. Und Rael würde sie mit in dieses Versteck zerren müssen. Wenn sie dann all ihre Kraft und Konzentration nur dafür verwendete, Hishn und Shona zu zügeln, könnte sie eine Chance haben.
Doch sich feige zu verstecken, das war keine Option. Nicht für eine Kriegerin und Amazone. Nicht, wenn ihre Reisegefährten sich in Gefahr begaben. Nicht, wenn die Einwohner dieser Stadt fielen wie Getreide unter der Sense. Wild entschlossen packte Tirgatao Hishn mit beiden Händen im Nackenfell. Wenn sie ihre Freundin schon nicht aufhalten konnte, dann musste sie wenigstens verstehen. In den folgenden Minuten übermittelte die junge Frau der Wölfin Bilder von Pfeilen, Schwertern, Äxten und anderen Waffen mit dem Hinweis, diese metallenen Reißzähne in jedem Fall zu meiden, unter allen Umständen. Aber sie zeigte Hishn auch die Stellen, an denen eine Rüstung schwach war und die Zähne der Wölfin hindurchdringen konnten. Sie schärfte ihrer Freundin ein, sich immer im Hintergrund zu halten, in den Schatten und aus guter Deckung zu springen, zuzubeißen und wieder zu verschwinden.
Erst als die Amazone sicher war, der Wölfin so gut vorbereitet zu haben, wie es ihr eben möglich war, verfiel sie in einen strammen Wolfstrab, um sich dem Kampfeslärm möglichst rasch zu nähern. Metall auf Metall, Schreie, Kreischen, das Splittern von Holz... der Kampf musste in vollem Gange sein. Um K'Ehleyr und die anderen zu finden, würde die junge Frau nicht um das Kämpfen herumkommen. Zuerst wollte Tirgatao zu ihrem Bogen greifen, doch sie ließ die Hand wieder sinken. Sie hatte keinen erhöhten Standpunkt und würde im Rücken der Stadtverteidiger eintreffen. So konnte sie nicht schießen. Stattdessen zog sie im Laufen beide Messer aus den Stiefeln, um sich so in den Nahkampf zu stürzen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie mit Messern gegen Schwerter antrat, und um sich selbst hatte sie nicht wirklich Angst.
Ares, heut ist ein Tag nach deinem Geschmack. Deine Tochter wird dir Ehre machen im Kampf und dir das Blut ihrer Gegner schenken. Gib mir Kraft, dass meine Hände nicht erlahmen mögen, bevor der letzte Feind am Boden liegt, und halte heute deine Hand über deine Geschöpfe. Die Grauen sollten nicht hier sein und ich kann es nicht ändern. Schütze du sie mit deiner Macht und lass mich diejenige sein, die kämpft. Ich kämpfe heute in deinem Namen und mit deinem Segen.
Doch kurz bevor die junge Frau sich in das Getümmel vor dem Tor stürzen konnte, sah sie K'Ehleyr und drakonia seitwärts verschwinden. Tirgatao packte kurzerhand Hishn mit beiden Händen und zog sie den beiden Frauen nach. Anfangs wehrte sich die Wölfin noch, denn der Lärm, die Schreie und der Geruch von Blut und Tod zerrten an ihr, lockten sie, riefen sie. Doch die Amazone wollte wissen, wohin ihre Gefährtinnen verschwanden, was sie vorhatten. In Gedanken entschuldigte sie sich bei Ares, dass sie nun doch nicht kämpfte, und beschleunigte ihre Schritte.
Als sie schließlich um eine Häuserecke bogen und die anderen fanden, blieb Tirgatao verwirrt stehen. K'Ehleyr bedrohte einen Mann mit dem Schwert, unterstützt von dem Bauern mit einem Messer. Shona lief frei herum und kam auch sofort zu Hishn und Tirgatao, was letzterer ein Stirnrunzeln entlockte. Warum hielt Rael die Wölfin nicht fest? War es ihr egal, ob Shona den Geräuschen folgte und von den Kriegern in Stücke gehackt wurde??
Tirgatao suchte sich einen Platz, an dem sie die Straße, aus der sie gekommen war, gut im Blick hatte, selbst aber geschützt war, und packte nun Shona mit der rechten Hand im Nacken. Hishn klemmte sie sich zwischen die Beine und hielt sie zusätzlich mit der verbundenen rechten Hand. Sie wollte sichergehen, dass sich niemand anschlich, und hoffte, dass ihre Gefährten bereits einen Plan hätten.
|