Beitrag #1
Der Schuss
'Wie es aussieht, bin ich der letzte Redner, der hier seine Geschichten zum Besten gibt. Aber das ist durchaus so gewollt, denn Ihr, meine geschätzten Zuhörer, wollt, nach den zahlreichen Erzählungen, die Ihr bis jetzt schon gehört habt, sicherlich keine lange Historie eines Krieges, oder den genauen Verlauf einer Schlacht. Auch etwas über die wichtigste Nebensache der Welt wollt Ihr sicherlich nicht mehr vernehmen. Also lasst mich etwas erzählen, dass nicht von Problemen zwischen Menschen handelt. Ich will euch die Geschichte, nein, den wichtigsten Zeitpunkt einer Jagd näher bringen. Den Moment vollster Konzentration, wenn man den Bogen spannt und auf das Wild zielt...
...die Sonne war gerade erst im Aufgehen begriffen und das Licht war noch schummrig. Ein leichter Nieselregen prasselte auf das Blätterdach der Bäume und benetze den Farn mit einer dünnen Wasserschicht. Glitzernd sammelten sich einige Tropfen in den vereinzelten Spinnweben, die zwischen den Halmen gespannt und bar jeder Bewohner waren. Der Geruch von nasser Erde lag in der Luft und eine klamme Kälte griff nach allem, was sich in diesem entlegenen Gebiet des Waldes aufhielt. Doch was war alles? Alles, das war nur der Jäger und seine Beute. Mehr gab es in diesem Moment nicht. Die Vögel, die schon vereinzelt in den Bäumen saßen, gab es nicht; die Insekten, die summend zwischen den Stämmen der Bäume hindurch flogen, gab es nicht. Für den Jäger gab es nur den Bogen, den einen Pfeil, den er aufgelegt hatte, sich selbst und den Hirsch, denn er schon vor Tagesanbruch aufgespürt hatte.
Vorsichtig späht er über einen Baumstumpf hinweg auf das Wild, das es zu erlegen gilt. Es steht ruhig auf einer Lichtung des Waldes und scheint den Jäger nicht zu bemerken, der sich den Wind zum Gehilfen gemacht hat. Nun endlich muss das Hundegebell ertönen, auf das er nun wartet. Das eine Geräusch, dass das Wild aufschrecken und in die Fänge des Todes treiben soll.
Langsam und bedächtig spannt der Schütze die Sehne des Bogens und sieht, wie sich sogleich einige Tropfen auf den Pfeil legen. Doch dieses Schauspiel beachtet er nur kurz, denn das Ziel ist vorsichtig. Es kann jederzeit ausbrechen und im Unterholz des Waldes verschwinden, unerreichbar für den Jäger und seine Meute. Doch es wittert ihn nicht, hört ihn nicht und sieht nicht die Pfeilspitze, die bedrohlich zwischen den Spinnweben glitzert. Nichts stört die Ruhe des Momentes, der der letzte des Hirsche sein soll.
Da ertönt das Hundegebell der Meute! Sie kommen! Treiben das Wild zur Flucht! Zur Flucht, aber nicht in die Freiheit, sondern in den Tod!
Panisch wendet der Hirsch kurz seinen Kopf und springt dann dem Jäger entgegen. Dieser erhebt sich etwas um besser zielen zu können, denn er weiß, dass seine Beute ihm nicht mehr ausweichen kann. Er visieret den Punkt des Tieres an, unter dem das Herz schlägt, denn er hat nur diesen einen Schuss. Den Schuss, von dem das Jagdglück abhängt.
Der Pfeil ist ein Besonderer. Gefertigt für die Jagd, aber gehandelt, wie eine Reliquie. Aus bestem Eisen die Spitze, aus edelstem Holz der Schaft und nur die besten Federn als Befiederung. Geschaffen um zu Töten. Um zu Töten und damit Leben zu schenken. Leben, in Form von Nahrung und Fell.
Der Atem geht langsam und ruhig; das Zittern in den Händen schwindet; die Augen nehmen nur noch den Hirsch war; die Ohren hören das leise Prasseln des Regens nicht.
Die Finger des Jägers geben die Sehne endlich frei! Unter dem Auseinanderstäuben des Regenwassers, das sich auf dieser gesammelt hat, schnellt sie nach vorne und schickt das tödliche Geschoss auf seine Reise.
Mit erstarrten Augen bricht der Hirsch im Sprung zusammen! Das Eisen hat seine Brust durchschlagen und sein Herz getroffen!
Schwer schlägt er auf dem feuchten Moos auf und rutscht über den nassen Boden. Seine Läufe sind in unnatürlicher Weiße abgewinkelt.
Rasch springt der Schütze aus seiner Deckung und bringt die restlichen Schritte bis zu dem Tier hinter sich, etwas blitzendes in seiner Hand - die letzte Erlösung, sollte das blutende Herz noch schlagen...
... Ihr seht also, dass es nicht immer Kampf und Gewalt sein muss, oder gar eine lange Geschichte, sehr geehrte Zuhörer. Es reicht auch ein kurzer Moment, der einen fesseln kann.', sprach der Redner und trat nach einer kurzen Verbeugen von der Tribüne.
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