Beitrag #1
Fremdland
Prolog
Ein klarer Himmel spannte sich über das Land. Die Nacht wich der Sonne im Osten. Blutrot stieg der Feuerball aus seinem Bett jenseits des Horizonts und beschien die Nebelbänke, die sich während der Nacht über den Sümpfen, die das Ende der bekannten Welt bezeichneten, gebildet hatten. Schon bald würde sie die ersten Spitzen des Tamorgebirges erreichen und dort die Bewohner der Bergdörfer wecken. Ihre Strahlen würden anschließend weiter wandern, zum Tarckland, das im Norden lag und bis zum Meer, das sich unendlich weit im Süden erstreckte. Sie würde die Wälder von Dodosa erhellen, die Weizenfelder der Linggalis und die Seelandschaft von Pheel. War es doch die Sonne, die dem Land den Odem des Lebens einhauchte und es erblühen und erstarken ließ. Ihr war es zu verdanken, dass es fruchtbar war und seine Bewohner ernährte. Es war aber auch die Sonne, die täglich und unbarmherzig die Zerstörung aufzeigte, unter dem das Land seit Beginn der Bruderschaft litt. Zerstörung, die Leid und Elend in das Land gebracht hatte. Flüsse, rot vom Blut Unschuldiger und schwelende Felder. Totes Vieh, tote Menschen, totes Land.
Askaarel
Einst ein blühendes Land, behütet von fünf Schwestern, rang es nun um den letzten Atemzug. Kein Landstrich, dessen Boden nicht von einer Schlacht aufgewühlt worden war. Keine Brücke, deren Steine nicht im Flussbett lagen. Kein Feld, das nicht brach lag. Kein Bewohner, der nicht einen Toten zu beklagen hatte und kaum ein Herz, das noch wagte, Hoffnung zu schöpfen. Askaarel starb unter den Brüdern, die die Schwestern vertrieben hatten. War doch die
Weisheit für immer gegangen. Es gab keine mehr, die den Bewohnern
Antworten gab. Vor der Bruderschaft geflohen war diejenige, die das
Leben schenkte und selbst die, die Erlösung im
Tod brachte, war verschwunden.
Nur die donnernden Hufe der Pferde, auf denen die Bruderschaft durch das Land ritten, waren allgegenwärtig. Täglich erklang Kampfgeschrei und Schwerterklirren, die den Bewohnern von Askaarel den Atem nahmen. Die Armee der Bruderschaft, schöne und grausame Geschöpfe, zerschlugen jeden Widerstand der Askaareler. Alle Krieger, die das Land je hervorgebracht hatte, standen auf den Schlachtfeldern. Mutige Männer und Frauen jeder Rasse, die nicht gewillt waren, ihre Welt fallen zu lassen, stellten sich der Bruderschaft entgegen, wurden dabei weniger und weniger, bis nur noch ein kläglicher Überrest übrig war. Und so duckte sich das Land unter den Schwertern der Bruderschaft, wisperte von friedlicheren Zeiten oder weinte sich jeden Abend in den Schlaf. Die Alten erzählten vom Frieden, von den Schwestern Askaarels und von den Tarcks, die lange vor der Bruderschaft Askaarel verwüstet hatten. An den Lagerfeuern vergaß man den Hunger, indem man sich von der Flut erzählte, die die Tarcks davongeschwemmt hatte. Leise nur, denn die Ohren der Bruderschaft waren groß und reichten bis in jedes Dorf. Hinter der Hand erzählte man den Kindern von der letzten Schwester, der einzigen, die noch lebte und die ihrer aller Schicksal an den Scheidepunkt bringen würde.
Die Erzählungen wurde zur Sage, alle Schwestern, bis auf die eine, gerieten in Vergessenheit, war sie doch die einzige Hoffnung Askaarels. Über Generationen hinweg wurde so die Geschichte um die letzte Schwester am Leben gehalten und mit Wünschen genährt. Bis die Not und der Hunger so groß wurden, dass mutige Männer und Frauen sich aufmachten, die letzte Schwester zu suchen. Eilig, gehetzt von der letzten, bevorstehenden Schlacht, durchkämmten diese das Land nach ihr durch. Sie durchquerten die Wälder und bestiegen die Berge, schifften über Meere und tauchten in den Seen. Jeder Winkel Askaarels wurde abgesucht, denn ihnen auf dem Fuß folgte die Bruderschaft, die ebenfalls die ersten sein wollten, um die letzte Schwester zu wecken.
Die Zeit drängte, denn gleichzeitig formierte man sich zum letzten Widerstand. Die Suche wurde hektischer, viele Suchende gaben am Ende auf. Nur ein junger Mann, kaum zwanzig Sommer alt, hörte nicht auf, Askaarel zu durchreiten, bis er in den Norden zum verbotenen Land der Tarcks vordrang. Eine Ahnung trieb ihn in die unwirtliche Gegend, die ihm sagte, dass sich die letzte Schwester bis hierher zurückgezogen hatte. Im Traum war sie ihm erschienen. Er hatte sie gesehen, wie sie tief im Tarckland, zwischen Steppen und zerfallenen Siedlungen schlief, eingeschlossen in einem Berg und überirdisch schön. Ihr Licht, das sie einst wie eine Korona umhüllt hatte, war verloschen. Hoffnung für sie vergebens. Askaarel für immer verloren.
Kapitel 1
Spitze Steine drohten die Stiefel Eolds zu zerschneiden. Er fühlte sie, selbst durch die Sohle seiner Stiefel hindurch. Spürte die scharfen Kanten, wie sie am Leder rieben und an den Nähten rissen. Meilenweit hatten seine Stiefel die Geröllhalde überstanden, doch nun, fast am Ende seiner Suche angekommen, drohten sie ihm ihren Dienst zu verweigern.
Eold seufzte. Schmerz und Müdigkeit waren die Dinge, die er noch am ehesten ertrug. Schlimmer dagegen war der vorherrschende Gestank, der Durst, der ihn seit Stunden plagte und die Angst vor dem Bruder, den er nur einen halben Tag hinter sich wusste. Das trieb ihn vorwärts, weiter über das Feld mit den Trümmern, das nur aus Steinen zu bestehen schien. Seit Tagen schon, ohne Rast, ohne Ruhe – nur von den Bildern aus seinen nächtlichen Träumen begleitet.
Der junge Mann hob seinen Blick von seinem Weg und fixierte den Berg vor ihm. Der meiste Teil seines Gesichtes war mit einem Tuch als Schutz vor der stechenden Luft bedeckt und trotzdem konnte er erkennen, dass er dem Berg in den letzten Tagen kaum näher gekommen war. Immer noch ragte er hoch und abweisend aus der Landschaft hervor, so, als hätte man ihn künstlich errichtet. Seine weiße Spitze steckte in den Wolken, die wie Schleier um ihn herum schwebten. Eold musste trotz seiner Erschöpfung zugeben, dass der Berg schön aussah, von seinen braunen und zerklüfteten Hängen einmal abgesehen, die selbst aus der Entfernung schon unwirtlich wirkten.. Berg von Urraca nannte man ihn. Die Tarcks lebten einst dort, von hier aus waren sie losgezogen, um Askaarel zu beherrschen. Aber Tarcks gab es nicht mehr, die Höhlen Urracas standen leer, einzig gefüllt mit dem Geruch des Todes und der Verwesung - aus den Tiefen des Berges kommend und vom leiseste Windhauch über die Geröllhalden geweht. Sein beißender Gestank hatte jegliches Leben zwischen den Steinen das Leben vertrieben und es herrschte eine Stille, die selbst Krähen die Gegend meiden ließ. Und doch war er Askaarels momentane und einzige Hoffnung.
Ein Schmerz, größer und schärfer als je zuvor, ließen den Jüngling straucheln. Wärme füllte seinen Stiefel und ein Gefühl, als wäre ihm der Fuß entzwei geschnitten worden, lähmte ihn augenblicklich. Einen leisen Schrei ausstoßend, ließ sich Eold auf einem Felsbrocken nieder. Blut quoll aus dem zerschnittenen Leder. Ein Stein, scharfkantig wie ein Dolch, ragte daraus hervor und war gleichzeitig Verursacher seines Schmerzes.
Ein wimmernder Ton löste sich aus der Kehle des Jünglings. Seine schmutzigen Finger griffen nach dem Stein und zogen ihn heraus. Sofort schwappte neues Blut aus seinem Fuß, ergoss sich über seine Hand und färbte die Steine unter ihm rot.
„Verdammt...nicht auch das noch.“
Verzweiflung überkam den jungen Mann wegen seines Ungeschicks. Nur noch ein Tag und er musste Urraca erreicht haben. „Ich bin tot...“
Unfähig, sich zu bewegen, starrte Eold auf seinen Fuß. Erst als sein Blut zwischen den Steinen versank, kam Bewegung in ihn und er schlüpfte aus seinen Stiefel, um sich die Wunde genauer anzusehen.
„Schaut hässlich aus.“ Obwohl ihn keiner hören konnte, sprach Eold seine Gedanken laut aus. Hier, in der Einöde vor Uracca hatte selbst seine eigene, dumpfe Stimme etwas tröstliches.
Ohne weiter zu zögern, riss sich der junge Mann einen Streifen Stoff aus seinem schmutzigen Leinenhemd und wickelte es fest um den Fuß. Die Blutung stoppte und er stieg wieder in seinen Schuh. Er bückte sich bereits nach seiner Tasche neben ihm, als das leise Poltern fallender Steine in erschrocken herumfahren ließ. Noch in der Bewegung fuhr seine rechte Hand an den Schwertgriff, welches an seiner linken Seite herunterhing.
„WER DA?“
Niemand antwortete ihm. Lediglich der Wind säuselte über die Oberfläche des Geröllfeldes hinweg, auf das er den stechenden Geruch Urracas hinterließ. Misstrauisch geworden legte Eold seine Hand an die Stirn und ließ seine Blicke über das Geröll gleiten. Doch nichts regte sich, die Ebene war so menschenleer wie sie es in den letzten Tagen gewesen war und so wandte er sich wieder um. Der Bruder würde nicht aufhören, ihm zu folgen und er musste sich eilen, wenn er vor ihm bei der Schwester sein wollte.
***
Weit weg von Askaarel, in einem anderen Land, einer anderen Welt, kehrte der Frühling in die Wälder Roms zurück. An den Büschen und Bäumen trieb das erste Grün aus, der Boden des Waldes war weiß von den blühenden Anemonen und auf den Wiesen konnte man junge Hasen spielen sehen. Es war ein Frühlingserwachen, wie es jedes Jahr vonstatten ging und war doch in den Augen der Frau, die die Wälder ihre Heimat nannte, immer wieder ein Erlebnis.
K`Ehleyr, die den Frühling jedes Jahr mit einem Spaziergang begrüßte, bog den Zweig eines Haselstrauchs zur Seite. Er versperrte ihr den Weg zu dem Pfad, der zum Waldsee führte, war der See doch ihr Ziel – oder vielmehr der alte Mann, der beim See wohnte.
Das letzte Mal, als sie Tun Arfis, den Schamanen, gesehen hatte, war es früher Herbst gewesen. Er hatte auf seiner Insel gestanden und lautstark seinen Zombie gescholten. K`Ehleyr war damals am Ufer stehen geblieben und hatte mit wachsendem Erstaunen der Flut von Schimpfwörtern zugehört, von denen sie die erste Hälfte nicht kannte und die zweite niemals aussprechen würde. Wenn sie sich recht erinnerte, war ihre Kinnlade mit jedem Schimpfwort ein Stück weiter nach unten gesackt, bis die Schimpftirade endete und in einem heiseren Röcheln erstarb. Tun Arfis war alt, lebte ungesund und seinem Gehilfen - einem Zombie - nicht unähnlich. Es würde sie deshalb nicht wundern, wenn ihm ein Stück Lunge in den Hals gestiegen wäre und dem Gezeter ein Ende bereitet hätte.
„Er lebt also noch....“ war das, was sie zuerst gedacht hatte.
„Und ist bei bester Gesundheit.“ Ihr zweiter Gedanke.
„Verdammt“ Woher kennt er nur solche Wörter?“ Ihr nächster.
Sie hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und über die Spitzen des Schilfs gelinst. Aber alles was sie gesehen hatte, war die Spitze seiner halb verfallenen Hütte – und der Kopf des Zombies, auf dem ein Strohhut thronte.
Letzteres hatte die Kriegerin in einige Verwirrung gestürzt, gehörte der Hut doch eigentlich Traumtaenzer, vielmehr seiner Vogelscheuche. Sie selbst hatte den Hut einem Händler vor dem Forum Romanum abgekauft und dem Bauern geschenkt. Ihn jetzt auf dem massigen Kopf eines lebendigen Toten zu wissen, bescherte ihr eine Minute heftigen Grübelns.
K`Ehleyr war schließlich weitergegangen und hatte den See mit dem Wissen hinter sich gelassen, dass Tun Arfis bei bester Gesundheit und Wohlbefinden war. Nun aber war der Winter vergangen, aus der Hütte stieg seit Tagen kein Rauch mehr auf und selbst Lyra, die sonst alles sah, was im Wald geschah, lehnte ab zu wissen, wie es dem Alten ging. Grund genug für K`Ehleyr, zum See zu gehen und nach dem Rechten zu sehen.
Das Ufer des Sees lag ruhig inmitten des Waldes. Auch hier kehrte der Frühling ein, aber im Gegensatz zum Sommer konnte man die Insel vom Ufer aus wegen des noch zarten Blattwerkes erkennen. Das Schilf lag kahl und von den letzten Winterstürmen geknickt am Ufer. Die Büsche reckten ihr ihre hellgrünen Äste entgegen und gaben ansonsten all das frei, was im Sommer verborgen lag: Ein verliebtes Entenpärchen, das Pergament einer Bekanntmachung - vom Imperator persönlich, wie sie erkannte - ein altes, rostiges Schwert, das im seichten Wasser versunken war, Ecthelions Hemd vom letzten Sommer – er würde es wohl nie wieder tragen – und ein Stiefel, der schon seit vielen Sommern das Kinderzimmer unzähliger Kaulquappen war.
Eine Stelle des Ufers lag seichter und zugänglicher zwischen dem ansonsten wild überwuchertem Rand. Im Sommer wurde hier gebadet und Picknicks auf dem Bootsteg veranstaltet. Ein kleiner Kahn lag auf den Steinen, mit dem man über den See rudern konnte. Normalerweise war er unter einem mit Pech bestrichenem Segeltuch verborgen, doch heute – und das war ungewöhnlich - schwamm es neben dem Bootsteg.
K`Ehleyrs rechte Augenbraue rutschte nach oben. Auch Tun Arfis hatte ein Boot, doch das lag gut vertäut auf der Insel. Dieses Boot gehörte somit dem diesseitigen Ufer und jemand hatte es benutzt.
Nun war es nicht so, dass man es nicht nicht benutzen darf, aber im Zusammenhang mit Tun Arfis erregte es ihr Misstrauen. Sie lief deshalb über den Bootsteg, krabbelte in den Kahn und ruderte zur Insel des alten Mannes hinüber. Dort angekommen, vertäute sie es an einem Ast und betrat die Insel.
***
Es war am Abend des nächsten Tages, als Eold endlich den Fuß des Berges erreichte. Ein scharfer Wind wehte vom Gipfel herab und brachte Kälte, sowie einen leichten Hauch von Schnee mit sich. Hungrig, durstig, müde und das Gesicht von Schmerzen gezeichnet, ließ sich Eold auf einen Stein nieder. Er zog sich sein Tuch von der Nase und griff nach dem Wasserschlauch an seiner Hüfte. Seine Finger, klamm vor Anstrengung, mühten sich mit der Schnur, bevor er den Schlauch vom Gürtel lösen konnte. Mit dem Bemühen, so wenig wie möglich von der beißenden Luft einzuatmen, nahm Eold einen Schluck - das Wasser schmeckte brackig und er musste sich zwingen, es herunter zu schlucken.
Eold drehte sich dem letzten Licht des Tages zu. Die Sonne versank gerade blutrot am Horizont. Rosa Wolken mischten sich mit allen Farben des Himmel, malten so ein Bild der Schönheit, das im krassen Gegensatz zu seiner Umgebung stand. Die hereinbrechende Nacht erinnerte Eold aber auch an den Bruder, der immer mehr aufschloss und ihn deshalb in ein paar Stunden erreichen würde.
Ein Ächzen ging durch den jungen Mann, als er sein Tuch wieder über die Nase schob und sich erhob. Den Wasserschlauch ließ er dabei auf dem Stein liegen, er war leer. Denn ein Zurück gab es für ihn nicht mehr, Eold wusste, dass ihn am Ende der Nacht der Tod erwartete.
***
Auf der Insel war es seltsam still. Wobei still nicht in Bezug auf völlig still oder absolut still zu setzen war, denn K`Ehleyr konnte selbst hier die Geräusche der Vögel und des Waldes hören. Es kam ihr eher vor, als würde irgendjemand oder irgendetwas auf der Insel die Luft anhalten.
„HALLO?“
Ihre laute Stimme schreckte ein Amselpärchen auf, das sich nun mit lautem Gezwitscher in die Weide verzog.
„JEMAND DA?“
Wieder antwortete ihr nur das Rauschen des nahen Waldes und so setzte sie sich in Bewegung, um die Insel zu erkunden, was nur wenigen Minuten in Anspruch nehmen durfte.
Die Kriegerin hatte soeben die Hütte erreicht, als sie fast gegen den Zombie des Alten stieß. Er stand wie ein Baum neben den Terassenstufen, wofür sie ihn Anfangs auch gehalten hatte. Seine braune Haut glich die alter Rinde und nur die Tatsache, dass ihn immer noch der Strohhut von Traumtaenzers Vogelscheuche zierte, unterschied ihn von den Resten einer vom Blitz erschlagenen Ulme.
„Ähm....“ K`Ehleyr wich einen Schritt zurück. Sie wusste, dass Tun Arfis seltsamer Gehilfe nur auf ihn hörte, also schenkte sie sich das Grußwort und ging um ihn herum, damit sie die Terrasse betreten konnte.
Aber auch hier konnte sie keine Anzeichen des Schamanen erkennen. In der Ecke der Terrasse stand ein Schaukelstuhl, der aber aussah, als wäre er den ganzen Winter über nicht benutzt worden. Die Reste einer Pflanze verkümmerten in einem alten Suppentopf und vor der Türe standen ein Paar alte Caligae.
Vorsichtig schob die Kriegerin die Tür zur Hütte auf. Der unnachahmliche Geruch alter Männer schlug ihr entgegen und trieb sie einen Moment lang zurück an die frische Luft.
„Bei den Göttern...“ Die Hand vor der Nase, starrte sie den Zombie an, so, als hoffte sie von ihm eine Antwort auf ihre unausgesprochene Frage zu bekommen. Dieser dachte jedoch nicht daran und so betrat sie ein zweites Mal die Hütte.
Dieses Mal starrten ihr von der gegenüberliegenden Seiten ein Augenpaar entgegen. Es gehörte zu einer dicken Kröte und die wiederum saß auf Tun Arfis ungeputztem Boden.
Die Kriegerin lebte bereits zu lange im Wald, um vor einer Kröte zu erschrecken – auch wenn ihr diese ungewöhnlich groß und hässlich erschien – und starrte zurück. Nach einigen Sekunden gegenseitiges Starrens öffnete die Kröte den Mund.
„GRÖAK?“
***
Mühsam erklomm Eold den Berghang. Der Weg, den die Tarcks erschaffen hatten, war steinig und steil, bot aber im Gegensatz zum Geröll davor ein schnelleres Fortkommen. Die Sonne war inzwischen untergegangen und es hätte tiefste Dunkelheit geherrscht, wenn nicht auf den Berghängen kleine Lichter getanzt hätten. Sie schienen aus den Ritzen des Berges zu kommen, tanzten an der Oberfläche der Steine einige Minuten lang und verloschen dann wieder. Einige Meter weiter erschien kurz darauf ein neues Licht, erleuchtete seine unmittelbare Gegend in einem hellen Grün, bis es wieder zusammensackte. Hunderte solche Lichter setzten den Urrac in ein geheimnisvolles Licht, das Eold in Furcht versetzt hätte, wenn dieser nicht schon von Angst getrieben worden wäre. So aber war er froh um die kleine Lichtquelle, die ihn nicht über jeden Stein stolpern ließ und kletterte den Berg hinauf, ohne auf das Phänomen zu achten.
Der Weg führte ihn zu einem großen, dunklen Loch im Urrac. Es war der Eingang zu einer Höhle vor einem weitläufigem Plateau. Die Felsendecke war hier niedrig und die Steine des Felsen so behauen worden, dass sie zu jeder Seite eine hässliche Fratze bildeten. Die Fratze war nur grob in den Stein hineingehauen worden, aber man konnte deutlich wütende Augen, und ein Maul erkennen. Zwischen hochgezogenen Lefzen waren spitze Zähne und eine heraushängende Zunge angedeutet worden, sowie ein grober Körper, der sich aber bald im Verlauf des ursprünglichen Gesteins verlief.
Mit vor Anstrengung klopfendem Herzen stellte sich Eold an den Rand des Plateaus und sah herab. Die Lichter zogen sich um den ganzen Berghang herum, tanzend wie kleine Geister und erschaffen vom Berg selbst, der sie aus dem Inneren heraus nach außen trieb. Ein dunkler Schatten bewegte sich zwischen ihnen, nahm dabei den Weg, den Eold selbst gegangen war.
Eine Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen und zeigte seine Entschlossenheit. Er griff nach seinem Schwert, um es zu ziehen. Anschließend wandte er sich ab und betrat den Gang, der in das Innere des Berges führte.
Schon nach wenigen Metern erkannte der junge Mann, dass es die Geisterlichter auch im Inneren gab und ihm damit gleichzeitig das Sehen ermöglichte. Neben dem grünlichen Schimmern begleitete ihn auch der Gestank nach Fäulnis und Schwefel in den Berg hinein, der nun trotz des Tuches bis in seine Nase drang. Gegensätzlich sauber dagegen wirkten die Tunnel, die ungewöhnlich glatt und ordentlich behauen waren. Die Tarcks mochten den Weg zu ihrer Eingangshöhle beschwerlich gehalten haben, ihr Haus aber hatten sie sauber und komfortabel gehalten. Eold eilte deshalb durch die Gänge der Tarcks, auf der Suche nach irgendetwas, was ihm den Weg weisen konnte. Erst als er unvermittelt auf eine große Halle traf, blieb er schwer atmend stehen und blickte sich staunend um.
Er stand in einem Saal, dessen Decke mehrere Meter über ihn ragte. Große Säulen stützten den Berg, und auch wenn es der Halle an jegliche Ausschmückung fehlte, bewies sie doch, dass die Tarcks alles andere als hirnlose Schlächter waren. Sie hatten sich eine Festung innerhalb des Urracs geschaffen, uneinnehmbar und geordnet wie ein Ameisenhaufen. Eold hatte Schlafsäle, Schmieden und Aufenthaltsräume durchquert. Nirgendwo war er dabei auf Unrat oder sonstige Zeugnisse von den ehemaligen Bewohnern gestoßen. Es schien, als wäre jemand hier gewesen und hätte die Wohnung erst kürzlich sauber ausgekehrt.
„Verdammt...“ Eold lehnte sich gegen einen Pfeiler und wischte sich die Stirn. In seinem Fuß pochte der Schmerz und sein Schwert schien ihm schwerer als sonst zu sein. Eine Ahnung stieg in ihm auf, dass er die Schwester so niemals finden würde, auch wenn er ihre Anwesenheit spürte – ein feines Prickeln, das einem die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Es fühlte sich an wie eine Veränderung in der Luft - wie als würde man wissen, das jemand den Raum betreten hatte, obwohl man mit dem Rücken zur Tür stand.
Der junge Mann schloss für einen Moment erschöpft die Augen. Stille war um ihn, die sich schwer auf sein Gemüt legte. Nach einiger Zeit kam es ihm vor, als hörte er durch einen Schleier hindurch die rauen Stimme der Tarcks. Hörte, wie sie durch die Gänge eilten, begleitet von dem Knirschen ihrer Rüstungen und den bellenden Rufen ihrer Anführer.
Lange hatten die Tarcks in diesem Berg gelebt. Ihr Dasein hatte mit dem Beginn Askaarels begonnen, sie waren von den Schwestern genauso erschaffen worden wie die Menschen und all den anderen Lebewesen in den Ebenen. Noch älter als die Tarcks waren nur die Schwestern selbst, von denen eine hier sein musste – am Ort des Beginns.
Sie rief ihn, er hörte sie in seinem Kopf. Er sah sie nun wie in seinen Träumen vor sich, gefangen in ihrem Schlaf, in den sie sich selbst zurückgezogen hatte. Ihr blaues Licht war nur noch ein schwacher Schein, das ihm nicht mehr den Weg weisen konnte.
„Nicht mit den Augen.“ Diese Erkenntniss traf Eold bis ins Mark. Erschrocken riss er die Augen auf wieder auf. Er hatte in der letzten Stunde umsonst gesucht, hatte sich umsonst im Berg verlaufen. Er hätte seinen Instinkten folgen müssen, indem er sich von ihnen leiten ließ.
Sein Schwert glitt ihm aus der Hand und fiel laut klirrend auf den Boden. Laut hallte es in der hohen Halle nach und ließ den Bruder, der nur wenige Gänge von der Halle entfernt war, aufhorchen und umdrehen.
Eold, der nicht ahnte, wie nah ihm sein eigener Tod war, zwang sich zur Ruhe und horchte in sich hinein. Eine sanfte Stimme schien ihn anzusprechen und ließ ihn einen Schritt nach vorne gehen Sie war da, ganz nahe.
***
„GRÖAK?“
Die Kriegerin hätte es nie für möglich gehalten hatte, dass eine Kröte imstande war, mit einem Fragezeichen am Schluss zu quaken. Aber diese Vertreterin ihrer Spezies tat es offensichtlich.
„Tun Arfis?“
Es fiel K`Ehleyr nichts anderes ein, als zurückzufragen. Was hätte sie auch sonst tun sollen? Tun Arfis war nicht da, sein Zombie war zu einem Baum erstarrt und außer der Kröte schien niemand sonst auf der Insel zu sein.
„GRÖAK.“
Die Kröte hatte sich keinen Millimeter vom Boden gerührt, aber K`Ehleyr hätte schwören können, dass sie geblinzelt hatte. So, als wäre sie mit dem Namen einverstanden gewesen.
„Viel hässlicher bist du aber nicht geworden.“
„GRÖAK!“
„Umgänglicher vielleicht.“
„GRÖAK.“
„Du hast Lyra geärgert, gibs zu.“
„GRÖAK?“
„Man legt sich nicht mit Waldfeen an. Erst recht dann nicht, wenn sie Lyra heißt.“ K`Ehleyr seufzte und stützte die Hände in die Hüfte. Vor Jahren kursierte an den Lagerfeuern eine Geschichte, in der ein Mensch von einer erbosten Fee in eine Kröte verwandelt worden war. Besagter Mensch war allerdings ein besonders eifriger Praetor gewesen, der die Geduld der Fee derart auf die Probe gestellt hatte, dass dieser der Geduldsfaden gerissen war. Gut möglich, dass Tun Arfis das gleiche Schicksal ereilt hatte. Zwar war Tun Arfis einem Praetor so ähnlich wie sie selbst einem Karpfen, aber alte Männer konnten sehr einsam auf einsamen Waldinseln sein. Erst recht, wenn sie jeden mit einer Schimpftirade davon vertrieben. Waldfeen dagegen waren hübsch, sauber und boten zu jeder Zeit einen netten Anblick.
„Was hast du gemacht? Sie bei ihrer Morgentoilette beobachtet?“
„GRÖAK.“
Konnten Kröten traurig quaken? K`Ehleyr war sich sicher, sie konnten es. Diese tat es jedenfalls.
„Tja....“
Gerne hätte sie nun etwas tröstliches gesagt. Etwas von der Art, dass es ihr leid täte, Tun Arfis als Kröte zu wissen und davon, dass es doch eigentlich gar nicht so schlecht wäre, im Sommer unter einem kühlen Blatt zu hocken, als etwas hinter ihrem Rücken geschah, das sie sofort von der Kröte ablenkte. Ohne, dass sie es sah, wusste sie, dass jemand Fremdes mit in der Hütte war. Ein feines Prickeln kitzelte ihren Rücken, das ihr die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Eine Veränderung lag in der Luft – sie wusste sofort, dass jemand den Raum betreten hatte, obwohl sie mit dem Rücken zur Tür stand.
Sie kannte dieses Gefühl und sie musste nicht erst den sanften und blauen Schein sehen, um zu wissen, dass SIE da war. Diejenige der Schwestern Askaarels, die sich als das Portal bezeichnete.
„Askaarel braucht eure Hilfe“
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