Mitternacht musste schon vorüber gewesen sein, als ein langezogenes Heulen sie wieder weckte. Im ersten Moment verwirrt, blickte sie in den vom Mondlicht erhellten Heuboden. Die Konturen des Heus hoben sich unscharf vor dem kleinen Fenster ab. Durch den Ausblick konnte man einzelne Sterne erkennen und ein frischer Wind wehte herein. Sie wusste aber erst, weshalb sie aufgewacht war, als es zum zweiten Mal heulte und Rhe im Stall unruhig zu schnauben begann.
„Wölfe...“ dachte Babe mit einem Anflug von Erleichterung. „Na, wenn das die Geister sein sollen, dann bin ich ja beruhigt...“
Sie setzte sich auf und kroch zu dem kleinen Fenster. In der Otta war es wie zu erwarten ruhig und sie wollte sich bereits wieder hinlegen, als sie einen Schatten an den Häusern vorbeihuschen sah.
Ihr nächster Gedanke ging zu Rhe – und ob sie die Stalltür abgeschlossen hatte. Nachdem sie dies bejaht hatte, blickte sie wieder hinaus. Der Schatten war verschwunden, doch nun huschte eine niedrige Gestalt direkt unter ihrem Fenster vorbei. Sie ließ an der Tür ein lautes Schnüffeln hören, was Rhe wiederrum schnauben ließ.
„Kss....“ machte die Kriegerin, ohne allerdings die Hoffnung zu hegen, so den Wolf vertreiben zu können. „Ksss...verschwinde.“
Der Wolf hob den Kopf und blickte zu ihr auf. Seine gelben Augen reflektieren einen kurzen Moment lang im Mondlicht, dann senkte er den Kopf und trabte davon.
Babe dagegen stand nun doch auf und stieg die Hühnerleiter zum Stall hinunter. Nach ein paar beruhigenden Worten zu ihrem Pferd ging sie zum Tor und vergewisserte sich, dass der Balken davor lag. Das Gleiche tat sie mit den Fenstern und der Tür zum Vorratsraum. Erst dann ging sie zur Box ihres Pferdes zurück, um ihn beruhigend zwischen den Ohren zu kraulen.
„Nur Wölfe,“ murmelte sie mit leiser Stimme. „Keine Geister – hätten sie sich in die Siedlung gewagt, dann wäre es ihnen selbst aufgefallen.“
Sie grinste bei ihren Worten. Die Händler in der römischen Taverne hatten auf sie zwar nicht den Eindruck gemacht, sich so leicht ins Bockhorn jagen zu lassen, aber genau dies war wohl geschehen: Ein Rudel Wölfe war zu einem Geist geworden und hatte so eventuell Neugierige davon abgehalten, die Siedlung genauer zu untersuchen und den eigentlichen Grund für das nächtliche Heulen herauszufinden.
Ihr Pferd immer noch kraulend, hörte Babe den umherstreifenden Wölfen zu. Vielleicht hatten die Männer doch recht: Die Ottajesko war zu einem Geist geworden: zu einem Geist seines früheren Daseins. All das fröhliche Gelächter, die lauten Stimmen der Thorwaler, die Festlichkeiten, die Geräusche, die hier immer zu finden waren – all das war auf ewig verstummt, die Otta für immer verlassen.
Viele tapfere Männer und Frauen hatten der Otta Leben und Seele eingehaucht und sie über ihre Grenzen hinaus bekannt gemacht. Freunde hatten sie gefunden und Feinde gemacht. Man mochte die Thorwaler lieben oder verachten, aber über eines war man sich sicher: man hatte ihnen Respekt gezollt.
„Lange ist es her,“ murmelte die Kriegerin zu ihrem Pferd. „Und doch kommt es mir wie gestern vor, dass mich der junge Hetman mit seinen Mannen beeindruckt hat.“ Babe hob den Kopf und blickte an die gegenüberliegende Wand, ohne sie wirklich zu sehen. Ein leises Lächeln zuckte in ihren Mundwinkeln, als sie an ihre ersten, wilden Jahre in den Provinzen dachte. An die Lagerfeuer, Tavernbesuche und Abenteuer. Unbesorgt und unbeschwert kam es ihr im Rückblick vor, obwohl es das wohl niemals war. Das Lächeln verschwand deshalb so schnell wieder, wie es gekommen war, auch, weil ein weiteres Heulen sie wieder in die Gegenwart rief. „Man soll die Vergangenheit ruhen lassen,“ dachte sie im Stillen. „So wie die Sturmwind-Ottajesko.“
Babe öffnete die Stalltür im ersten Morgengrauen. Die Wölfe hatten sich schon seit Stunden nicht mehr hören oder blicken lassen, weshalb sie davon ausging, dass diese sich in die Ebene zurückgezogen hatten.
Ihr Pferd am Zügel trat sie nun in die kühle Morgenluft hinaus. Die Hufe Rhes waren auf dem vom Tau benetzten Boden kaum zu hören und die feuchte Luft ließ sie schaudern. Sie beeilte sich deshalb mit dem aufsitzen und ritt auf Rhe durch die Otta. Am alten Langhaus des Hetmans stoppte sie noch einmal, um es zu betrachten. Gestern wäre sie vielleicht noch hineingegangen, heute dagegen wollte sie die Stille darin nicht stören. Anders als bei der Taverne wäre es ihr wie ein Eindringen in die Privatsphäre Kjaskars vorgekommen und das wollte sie auf keinen Fall. Sie trieb deshalb ihr Pferd nach kurzer Zeit wieder an und verließ kurze Zeit später die Sturmwind-Ottajesko.
Bevor die alte Thorwalersiedlung ganz aus ihrem Blick verschwand, drehte sich die Kriegerin noch einmal auf ihrem Pferd um. Von ihrem jetzigen Standpunkt aus betrachtet, sah sie aus wie immer: Wie das Dorf derer, die sie einst als ihre Freunde bezeichnet hatte. Wie die Siedlung, die sie in Erinnerung behalten wollte und wie die Ottajesko, die ihr lange Zeit zumindest geistig als Heimat gedient hatte.
„Lebt wohl,“ flüsterte die Kriegerin leise in den Wind hinein. „Ich werde euch nicht vergessen, darauf mein Wort!“
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