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Letztes Duell (kikky)
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Letztes Duell (kikky)
Letztes Duell

Das gefrorene Gras knirschte unter ihren Füßen, als sie im ersten kalten Licht der morgendlichen Sonne auf die Wiese vor der Stadt trat. Eine schweigende Menge hatte sich bereits eingefunden, Männer, Frauen, Kinder, deren große Augen verdächtig feucht schimmerten. Nur selten einmal war leises, beinahe andächtiges Flüstern zu hören, meist überdeckt vom Pfeifen eines stürmischen Ostwindes, in dessen Atem Winter mitreiste, und es war beinahe tröstlich, die eisige Luft tief in ihre Lungen zu saugen – und sie lächelte. Es würde kommen, was kommen sollte.

Die Fläche inmitten der Zuschauer war kreisförmig und klein, kaum sechs Schritt im Durchmesser. Während sie sich ihr näherte, traten die Bürger auseinander, schweigend, besorgt, und bildeten ihr so eine Gasse. Im Augenwinkel sah sie die Hände, die schützend nach ihr ausgestreckt wurden, die spontanen Bewegungen, sie zurückzuhalten, doch bevor man sie berührte, sanken sie wieder hinab. Ein Raunen, Segenssprüche, kleine weiße Winterblumen, die ihr auf den Scheitel und vor die Füße geworfen wurden, wie Tränen, in Kälte erstarrt.

Wolken jagten über den Himmel, ein schnelles Wechselspiel von Licht und Schatten auf dem überzuckerten Gras und dem Dächermeer in ihrem Rücken. Als sie die Freifläche betrat, tauchte grade der Sonnengott hinter einer Wolke am fernen Horizont wieder auf und malte ein Strahlen auf die vernarbten, alten Wangen. Geblendet schloß sie die Augen, tauchte in das durchscheinende Blutrot ihrer Lider ein. Einige Augenblicke verstrichen, dann erst blinzelte sie wieder, und suchte nach ihm. Ihr Gegner stand ihr bereits gegenüber, ihr genaues Gegenteil – jung, strahlend schön, weiß gekleidet. Der Kontrast war perfekt, so sollte es sein.

Als der Jüngere und außerdem der Herausfordernde grüßte er sie zuerst, und mit einem huldvollen Kopfnicken nahm sie die Ehrung an. Seine grünen Augen funkelten keck, als er sie musterte – und sie sah sich selbst, gespiegelt in seinem Blick. Der gekrümmte, gebeugte Rücken, die erschlafften Muskeln. Jede Falte, jeder athritische Knoten an ihren Gelenken, besonders an den Händen, wurde ihr schmerzhaft in ihr Bewusstsein gezerrt, und sie verstand das erleichterte Zucken seiner Mundwinkel. Ihre Miene versteinerte. In all den Jahren, nach den vielen Kämpfen, die sie ausgefochten hatte, würde es sie nicht stören, wenn sie dieses Mal unterliegen würde. Es gab einen Teil in ihrer Brust, der längst des zerfallenden Körpers müde war, der die Verantwortung, die einer schweren Last gleich auf ihren Schultern ruhte, abgeben wollte. Vielleicht war er, der dort so unschuldig und jung vor ihr stand, derjenige, der ihr nicht nur die Macht nehmen, sondern auch Erlösung geben würde. Die Götter würden es fügen, wie sie es wünschten.

Von hinten trat ihr Sekundant an sie heran und reichte ihr den kleinen, niedrigen Schemel, der die traditionelle Kampfhaltung ermöglichte. Dankbar lächelte sie ihm zu, während sie sich darauf niederließ und die Füße vor sich kreuzte, wie es auch ihr Konkurrent nun tat. Neben ihr stellte man die schwarze Holztruhe mit ihrer Waffe ab, doch es war nicht an ihr zu beginnen. Noch einmal schloß sie die Augen, versenkte sich tief in sich hinein. Ruhe, wie das Meer, flüsterte und umschmeichelte ihre Seele, und jeder Atemzug ließ die Konzentration und Andacht tiefer werden. Was sie früher bei solchen Machtproben angetrieben hatte, der Wille, zu herrschen, zu unterwerfen, war schon seit Jahren in den dunklen Tiefen des Verlustes gemeinsam mit jenen ertrunken, die einst sie zu schützen geschworen hatte. Sie alle hatten, sei es durch Gewalt, Krankheit oder Alter die Schleier zu den Göttern durchschritten, und ihr Herz war verwaist, mit jedem Tod starb auch etwas von ihr. Bloße Loyalität zu ihren Bürgern und Bewusstsein ihrer Pflichten ließen sie seitdem jeden Morgen aufstehen, ließen sie arbeiten, regieren und eben diese unvermeidlichen Duelle ausführen, obwohl sie bei jedem hoffte, es möge das letzte sein.

„Herrin? Seid Ihr bereit?“

Die Stimme, welche sie aus ihren Gedanken riss, war melodisch und voll, ein warmer Bariton. Unwillkürlich huschte ein Schmunzeln über ihr Gesicht. Immerhin kein Tenor, das war schon ein guter Anfang. Tenöre neigten ihren Erfahrungen nach zur Selbstüberschätzung, und kamen zu früh, sie zu fordern, Bässe hingegen oft zu spät, wenn der Höhepunkt ihrer Kraft schon überschritten war. Vielleicht war dies ein gutes Zeichen.

„Aye. Ihr seid der Herausforderer, also habt Ihr das Recht des Anfangs. Ich bin gespannt.“

Nun lächelte auch er, dann erhob er sich und breitete die Arme zum Himmel aus.

„Aye, so sei es, wie es war und wie es sein wird. Es beginne. Mögen die Götter Weisheit und Inspiration demjenigen senden, der Ihrem Willen nach siegen möge.“

Nach dieser traditionellen Eröffnungsformel ließ er sich wieder auf seinen Schemel sinken. Von ihren Sekundanten wurde ihr wie ihm nun ein Seitentuch um die Augen gebunden in den jeweils gegenläufigen Farben – ihres war strahlend weiß, seines schwarz.

Ihre trotz des Alters noch feinen Ohren registrierten das Quietschen des Behältnisses, in welchem seine gewählte Waffe verstaut gewesen war, dann lauschte sie seinem Atem. Er ließ sich Zeit, vermutlich suchten seine nun blinden Hände nach Fehlern und Makeln, die gleich zu Beginn den Kampf entscheiden konnten. Ihre Spannung nahm zu, die wenigen Augenblicke dehnten sich in die Unendlichkeit. Es war nicht nur Furcht vor dem ersten Schlag, dem ersten Angriff, es war auch Neugier. Der Junge war bedachter als es die letzten gewesen waren, und somit versprach der heutige Kampf neben der Anstregung auch Vergnügen – sollte er ein wahrer Künstler sein, würde selbst die Niederlage ein Gewinn sein...

Luft füllte vernehmlich und tief seine Lungen, und sie machte sich bereit, jede Muskelfaser gespannt. Jeden Fehler musste sie spüren, hören, analysieren, um seine Schwachstellen zu entdecken, und auch, wenn er keine Fehler machte, musste sie seine Perfektion fortsetzen.

In der Sekunde, bevor er begann, kribbelte ihre Haut, der Wind schien für einen Moment zu verstummen, und dann kam der erste Ton. Er hatte als Waffe eine Viola gewählt, stimmvoll, warm und in der Mittellage, wenngleich kein virtuoses Instrument. Sie lauschte, während sein Bogen über die Seiten fuhr. Es war ein guter Geigenbauer gewesen, der dieser Bratsche ans Licht geholfen hatte, das war ihr rasch klar. Es war ein ungewöhnlich klarer Klang, besonders, und er beherrschte seine Technik gut. Jeder Ton war rein, beinahe so rein, daß es schmerzte, und in seinem Strich lagen Gefühl und Präzision. Das Thema, mit welchem er ihr Duell begann, war zunächst einfach und cantabel, galanter, tanzhafter Stil, wie eine leichte Volksweise aus ländlicher Gegend. Ein Hauch Wehmut schwang in den Seufzern mit, die in feinem pianissimo das ansonsten mezzoforte gespielte Liedchen durchbrachen, doch dann begann er freier, wilder zu spielen. Sein Tempo steigerte sich, der Rhythmus wurde schmaler, kleiner, bis aus dem lyrischen Beginn ein virtuoser, feuriger Freudentanz wurde, mit kühnen intervallsprüngen und trotz des Tempos sauber eingeführten und aufgelösten Dissonanzen.

Man hätte ihm noch ewig zuhören können. Sie verlor sich nahezu in seiner Musik, und erst, als ihr Knappe ihr die schmale Truhe unter die Hände schob, wurde ihr bewusst, daß sie nun bald parieren musste. Bei Kämpfen, in denen es um mehr als Ehrverteidigung oder einen Streit ging, gab es kein festgelegtes Schema, nach welchem sich die Duellanten abzuwechseln hatte. Es war jedoch eine Frage der Höflichkeit, daß man dem anderen Raum gab, in welchem er sich entfalten konnte – jedoch auch nicht zu viel, wollte man noch Durchführungsspielraum mit den vorgegebenen Motiven haben.

Ein wenig zitterten ihre Hände, als sie vorsichtig den Deckel abhob und forschend über das glatte Silber strich. Die Scharniere waren in der richtigen Einstellung, das Mundstück angefügt. Sie hob ihr Instrument an die Lippen, lauschte noch einmal konzentriert auf seine Melodieabläufe, dann fiel sie mit ein. Für einige Herzschläge harmonierten die Oboe und die Viola, dann zog er sich zurück, spielte eine öffnende Schlußkadenz und ließ die Bratsche verstummen. Nun war es ihr Angriff.

Zunächst war sie vorsichtig, spielte in dem harmonischen Rahmen, den er abgesteckt hatte. Sie griff seine Motivik auf, wie eine Reprise, dann wob sie Zwischendominanten, Spannungsfelder und kleine Verfremdungen mit ein. Hier ein wenig verkürzen, dort strecken, bis die harmonischen Wege breit genug waren, um auf ihrem gepflasterten Grunde eine andere Melodie mit einzubringen. Ihr Thema trug sich mit Traurigkeit schwanger, war schwer, müde und alt, und sie spielte es aus, bis sie aus den Zuschauerreihen um den Kampfplatz herum erste Schluchzer vernahm. Nun begann sie zu malen, mit Tönen zu beschreiben, wie aus Trauer Freude und aus Freude Trauer erwachsen kann, doch recht zufrieden war sie mit ihrer Antwort auf ihn nicht. Sie spürte es auch – es war nichts grandioses, was sie zu erwidern gewusst hatte, und so war sie beinahe froh, als sich ihren Oboentönen eine Geigenstimme unterlegte.

Diesmal hatte er ein Violoncello gewählt, tiefer, ein Instrument für Melancholie und Grundsatzüberlegungen, wie ihr Lehrer es ihr einst vor vielen Jahren dargelegt hatte. Wehmütig dachte sie an den weisen Barden zurück, hörte, wie sich seine Stimme und der Gesang des Cellos im Unterricht vermischten. Er hatte wie niemand sonst, den sie seitdem kennengelernt umd dem sie gelauscht hatte, die Fähigkeit gehabt, die Welt in Musik darzustellen. Doch solche Kunstfertigkeit gab es heute nicht mehr, die Musik verlor sich als bloßes Unterhaltungsmedium im Sog der Zeit. Nicht mehr viele wussten um ihre Macht.

Mit einem Kopfschütteln holte sie sich zurück in die Gegenwart, versuchte sich zu konzentrieren. Ihr Konkurrent griff ihre Thematik auf, doch war die Traurigkeit, die in der großen Oktave seines Cellos ihren Ausdruck fand, nicht so platt wie ihre, vielschichtiger. Er schwang die Melodie zu strahlenden Bändern, die sie durch ihre Augenbinde in dem Kreis tanzen sah. Es war eindeutig – im Moment lag er vorn.

Mit den Fingern bedeutete sie ihrem Gehilfen, was sie als nächstes zu spielen wünschte, dann fügte sie sich mit in die Melodie. Ihre Querflöte fügte dem wehmütigen Cellogesang das heitere Liedchen vom Anfang hinzu, und zusammen ließen sie die beiden unterschiedlichen Ideen, diskutieren, sich umkreisen. Manchmal näherten sie sich an, dann wieder entfernten sie sich voneinander. Es war ein Wettstreit, doch es war gleichzeitig Gemeinschaft – zusammen gegeneinander, getrennt vereint. Kontrapunkt und Generalbass, mal orgelpunktisch, mal motettisch, ein schnelles Ringen umd Antäuschen. Immer wieder flochten er oder sie neue Elemente mit ein, brachen aus, immer im Versuch, einen musikalischen Ort zu finden, an den der andere nicht zu folgen vermochte.

In fliegender Eile wechselten sie die Instrumente, er griff vom Cello zu einer Harfe, woraufhin sie mit einer Violine nachzog. Später erfand sie auf einem Waldhorn ein vollkommen neues, kontrastierendes Thema, welches mit majestätisch-königlicher Strahlkraft die Dunkelheit ihres eigenen Trauermotivs zerschmetterte. Nun funkelten zwischen den sichtbar gewordenen Klangbändern diamantene Sterne in ihrer Mitte, silbrig und rein. Er konterte mit einem auf einem Dudelsack vorgetragenen folkloristischen Motiv, tanzbar und unglaublich eingängig, so daß nach nur wenigen Minuten die Zuschauermenge mit selbst erfundenen Texten einfiel. Notgedrungen passte sie sich ihm dann an, indem sie mit einer Laute akkordische Begleitungen hinzufügte, die sie dann jedoch zunehmend abwandelte, bis er die Harmonik seines Gesangs nicht mehr halten konnte. In diese Phase brach sie mit solistischen Einlagen, nutzte seine kurze Unsicherheit, um mit brillanter Fingerfertigkeit zu beeindrucken. Es gelang ihr, zumindest kurzfristig, doch für diesen kurzen Triumph zahlte sie mit zunehmenden Schmerzen in den Fingergelenken, die ihre Schnelligkeit behinderten. Vielleicht würde es sogar nur dadurch entschieden werden – wer von ihnen beiden die längere Ausdauer besaß, schoß ihr kurz durch den Kopf. Sie hatte schon längst ihr Zeitgefühl verloren, wieviele Stunden sie dort schon kauerten und musizierten, wusste sie nicht mehr.


Es musste schon Abend sein, als sie beide zu den letzten Klangmitteln griffen, die sie dabei hatten. Die Kombination war sehr ungewöhnlich, und auch ihre Kreativität hatte deutlich abgenommen. In seinen Händen hielt er ein Glockenspiel, flirrend und hell in den Klängen, während sie zwischen ihren Knien eine kleine exotische Handtrommel eingeklemmt hatte, auf welchem sie mehr oder weniger monotone Rhythmen erzeugte, über welchen er fantasierte. Keiner von ihnen wollte aufgeben, doch waren sie beide am Ende ihrer Kapazitäten. Licht, manifestierte Musik, umreiste sie beide, formte Strudel, Gebilde, Figuren, doch war der Sieger noch immer nicht gekürt, nicht eindeutig. Die Götter hielten sich bedeckt.

Fast dachte sie, als hätte sie sich geirrt, so leise war die Frage, die über dem weiter klingelnden Glockenspiel an ihr Ohr drang.

„Herrin, wollen wir gemeinsam zum Ende kommen?“

Als Antwort ließ sie ihre Schläge langsamer werden, vereinfachte das Metrum, und er spielte eine simple Schlußkadenz. Kurz herrschte Stille, dann hoben sie beide gemeinsam an zu singen, wie es die Tradition verlangte. Ein langsamer Kanzionalsatz, voll Ehrfurcht und Demut zum Lobpreis der Götter. Dort, wo ihre Stimme, durch ihr Alter schon instabil und rau, zu versagen drohte, sprang er noch ein, half ihr, und fügte dann sanft und stützend eine zweite Stimme hinzu, wenn sie zurückgefunden hatte. In ihrer Brust erwachte Sehnsucht, und mit plötzlicher Klarheit wusste sie, daß sie verloren hatte. In dem er sich am Ende zurückstellte, in dem er sie stützte, anstelle ihre Schwäche auszunützen, würde er den Segen der Götter bekommen. Mit dieser Erkenntnis loderte Freude in ihr auf, Erleichterung, einen würdigen Nachfolger gefunden zu haben, und Glück über die Sicherheit, bald im Kreise ihrer Liebsten zu ruhen. Es war an der Zeit.

Die letzten Töne verklangen dann gemeinsam, einstimmig. Erst nach einiger Zeit nahmen sich beide ihre Augenbinden ab, schweigend, andächtig. Die Menschen um den Kreis herum saßen, noch verzaubert von dem Konzert, während fern am Horizont der Mond silbern aufging.

Um sie herum schwand langsam das Leuchten der sichtbaren Musik, doch um ihn blieb es bewahrt, wirbelte und tanzte. Sie blieben sitzen, bewegungslos. Erst, als er allein erstrahlte im Dunkeln der Nacht, erst, als die Schatten sie ebenso verschluckt hatten wie alles andere, ging ein Raunen durch die Zuschauer, ein Zittern. Sie hingegen neigte still den Kopf. Ihr letzter Kampf.

Mühsam stemmte sie sich auf die Beine, und es dauerte einige Momente, bis sie ihr Gleichgewicht fand und sich sicher war, daß ihre Füße die Last des Körpers tragen konnten. Dann erst ging sie auf ihren Gegner zu, der nun, durch die Musik, auch ihr Gefährte war, und verneigte sich vor ihm. Mit nun wieder ganz ruhigen Händen legte sie die Kette ihres Amtes um seinen Hals, reichte ihm ihre Instrumente, und ließ sich dann vor ihm auf ihr Knie niedersinken. Tiefe Ruhe erfüllte sie, und sie lächelte ihn, in dessen Augen nun Bereuen und Schmerz standen, an.

„Verzeiht mir, Herrin.“, flüsterte er, und sie lachte leise, ein kleines, silbernes Lachen.
„Es gibt keine Schuld. Ich danke Euch.“

Ihr Lächeln blieb auf ihren Lippen, als das Schwert ihr Herz durchbohrte. Ihr Körper sank leblos auf den Boden, während er wieder Platz nahm, und weiterspielte, allein – zu ihren Ehren.
14.05.2009, 22:21