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Der Tod und das Mädchen
Rael_Steinbrecher
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Beitrag #1
Der Tod und das Mädchen
Rael hatte Minas Bellorum bereits hinter sich gelassen, als sie zurückblickte und die Hauptstadt des Ordens der Rose im Rot der aufgehenden Sonne für einen Moment betrachtete. Der Frühling hatte nach und nach Einzug gehalten und auch Rael hatte der Drang nach Bewegung ereilt. Sie wollte raus, wollte an die frische Luft, wollte genießen, wie der triste Winter schwand. Die Knospen an den Bäumen sprossen, die Bäume kleideten sich langsam wieder in ein zartes grünes Blattwerk und die Blumen reckten ihre Köpfe aus der Erde, um sie der Sonne entgegen zu strecken. Die Sonne hatte noch keine Kraft am frühen Morgen und doch freute sich Rael auf die Sonne des Mittags, den sie gedachte diese zu genießen. Während sie durch das taubedeckte Gras wanderte, war sie bedacht die zarten Blumen nicht zu zertreten. Sie wußte, dass dies eigentlich vergebliche Liebesmüh` war und doch hatte sie ein schlechtes Gewissen, das aufkeimende Leben an ihrem Fortschreiten zu hindern. Seufzend schlenderte sie den Weg zu ihrem Lieblingswald hinauf. Die Bäume waren hier besonders saftig, groß gewachsen und stark. Viele waren älter, als Rael es sich vorstellen konnte und übermittelten durch ihr Erscheinungsbild den Eindruck von Weisheit, Würde und Seelengröße, die von wenigen übertroffen werden konnte.

Mit einem Lächeln auf den Lippen betrat Rael genau diesen Wald, einen kleinen Korb mit Essbarem in ihrer Hand und einer wollenen Decke über dem Arm. Hier wollte sie verweilen, hier wollte sie den Frühling genießen und die Natur auf sich wirken lassen. Manchmal vermisste sie die Ruhe im Trubel Minas Bellorums. Aus diesem Grund suchte sie genau diese nun, sie wollte nachdenken, wollte die Natur erleben. Nach ein, zwei Minuten Marsch in den Wald hinein, der ebenso im Frühling erwachte wie der Tag, hatte Rael ihr Ziel erreicht. Sie hatte diese Lichtung bei einem ihrer Spaziergänge entdeckt und nun wollte sie hier rasten. Sie stellte den Korb neben sich und breitete die Decke auf dem moosbedeckten Boden aus. Langsam ließ sie sich darauf nieder, lehnte sich an einen der wuchtigen Bäume und atmete tief durch. Vögelgezwitscher begleitete den Taganfang und Rael hatte vor ihn nun auf ihre Weise zu begrüßen. Sie zog den Korb zu sich und ergriff die Wegzehrung. Bedächtig begann sie ihr Mahl zu sich zu nehmen und ihren Blick schweifen zu lassen. Es war ruhig hier, keinesfalls still, denn der Wald schwieg nie. Aber es war friedlich, als hätte dieser Ort keinerlei Boshaftigkeit oder Tod gesehen.

Entspannt, gesättigt und eingelullt von den Geräuschen des Waldes dämmerte Rael langsam hinweg. Sie war früh gestartet und der fehlende Schlaf holte sich nun die Zeit, die Rael normalerweise noch in ihrem Bett verbracht hätte. Das Rauschen der Bäume, das Zwitschern der Vögel und das Rascheln der Büsche begleitete Rael in das Land der Träume. Mit einem Lächeln auf den Lippen entglitt sie der hiesigen Welt, um wilde, gefährliche Abenteuer zu erleben.

Die Sonne war kurz davor unterzugehen und die Dämmerung hatte langsam eingesetzt. Bizarre Schatten bildeten sich durch die Bäume an den Häuserwänden und erschufen knorrige Geister mit langgliedrigen Extremitäten. Im Wind bewegten sich diese Schatten, die einander zu verfolgen, einzuholen und dann wieder voneinander abzudriften schienen. Die Kraft der Sonne war längst mit der Dämmerung verschwunden und der Wind blies eisig durch die Ritzen des Hauses, auf welches das Mädchen zusteuerte. Es war spät geworden und sie hoffte nur, dass ihre Mutter nicht wütend sein würde. Sie hörte den Vortrag ihrer Mutter nur zu genau in ihrem Geist widerhallen: „Kind, wenn es dunkel wird, musst Du daheim sein. Man weiß nie, wer sich im Dunklen herumtreibt! Hörst Du?“

In der Regel hielt sie sich daran, doch heute hatte sie die Zeit vergessen. Sie hatte einen reifen Brombeerbusch gefunden, hatte sich erst den Bauch voll geschlagen und dann die restlichen Beeren in der Schürze ihres Kleides gesammelt. Sie liebte es Beeren zu pflücken, war es trotz der Dornen meist eine sehr magenfüllende Aufgabe. Mit ihren zehn Lenzen wußte sie bereits sehr genau, was Hunger bedeutete. Genau aus diesem Grund schickte ihre Mutter sie, Beeren zu pflücken. Natürlich ging sie davon aus, dass eine Beere im Mund und die andere in der Schürze landete und natürlich billigte sie dies. Eine Mutter würde alles tun, in dem Wissen, das ihr Kind seinen Hunger stillte. Der magere Körper zeichnete sich deutlich unter dem blassen Kleid ab, erschuf einen absonderlichen Schatten an der Häuserwand, an dem sie nun vorbeihuschte. Es war spät, sie war spät. Von einem Haus zum anderen laufend, suchte sie den direkten Weg durch das kleine Fischerdorf. Ihr Herz pochte unter der kindlichen Brust vor Aufregung, Angst und Anstrengung.

Mit dem Knirschen der Steine unter ihren blanken Füßen rutschte sie um die Ecke, als sie den Weg zum Haus ihrer Mutter erreichte. Ein Keuchen entfuhr ihr, als das Licht der Fackeln sie blendete.
Fackeln? Schnell zog sie sich in den Schatten der Wand zurück. Mit einem Mal war die aufkommende Dunkelheit willkommen, willkommener als vor ein paar Sekunden noch. Mit weit aufgerissenen Augen spähte sie den Weg zu ihrem Heim hinüber, wo gerade Männer mit Äxten die Tür ihres Hauses einschlugen. Der vertraute Klang der Axt auf Holz wurde in diesem Moment zu einem absonderlichen Geräusch, welches beängstigend und beklemmend zugleich war. “Mutter…!“, flüsterte das Mädchen, welches sich noch enger an die Hauswand presste. Sie versuchte eins zu werden mit der Dunkelheit. Angst schnürte ihren Hals zu und lähmte ihren Körper. Sie war nicht in der Lage zu verhindern, was dort gerade passierte, fühlte ihren bleischweren Körper gegen die Wand gepresst, als wäre er ein Stück Holz, welches an die Wand hinter ihr genagelt wurde.

Die Geräusche um sie herum nahmen zu. Männer fluchten, Frauen schrien angsterfüllt und Kinder weinten. Dort splitterte Holz und hier knisterte die verzehrende Kraft des Feuers. Den Weg, den sie gerade erst genutzt hatte, wurde plötzlich hell erleuchtet, als eines der Häuser des Fischerdorfes in Flammen aufging. Lange hatte es nicht mehr geregnet und das Holz war trocken geworden. Der Geruch von verbrennendem Fleisch, von hochprozentigem und Feuer zog nun durch die Trampelpfade des Dorfes. Doch das Mädchen nahm dies nicht wahr. Wie gebannt blickte sein nun zu ihrem eigenen Haus, bei dem die Männer die Tür nun endlich aus den Angel hoben. Mit Fackeln und Schwertern bewaffnet, stürmten sie hinein und begannen sofort die Bleibe zu durchsuchen. Im Schein der Fackeln konnte sie die Männer genau sehen und Entsetzen packte sie. Wie konnte er dies nur zulassen?
Wieso all das?

Die Männer, gekleidet in Plattenrüstung mit einem nicht zu übersehenden Wappen – dem Wappen Roms. Dies waren Schergen des Imperators, die ihrer Arbeit nachgingen. Oder waren es womöglich außer Kontrolle geratene und der Imperator wußte nichts von all dem? Nur so konnte es sein. Die Rüstungen, das Wappen und die durch den Fackelschein verzehrten Gesichter ließen das Mädchen zittern. Die Angst kroch wie die Kälte, ihre nackten Füße die Beine hinauf und erfasste schnell ihren Körper. Sie versuchte ihren Atem zu beruhigen. Suchte sich zu beruhigen mit der Tatsache, dass ihre Mutter bestimmt nicht zu Hause war. Gewiss hatte sie sich in Sicherheit bringen können, bevor der Wahnsinn hier begonnen hatte. Unerwartet mußte sie den Blick von ihrem Heim lösen, als sich das Licht einer Fackel ihrer Ecke näherte. Sie drückte sich noch tiefer in den Schatten, verbarg ihr Gesicht hinter ihrem Arm, ließ ihre dunkeln Haare nach vorne fallen, um so wenig helle Haut wie nur möglich zu offenbaren. Zusammengekauert, mit dem Arm vorm Gesicht spürte sie die Wärme der Fackeln förmlich auf ihrem Arm kitzeln. Für einen Moment presste sie die Augen zu, wollte nicht sehen, wollte nicht gesehen werden. Doch die Angst vor dem was da kam, ließ sie die Augen wieder aufreißen.

Mit vor Angst geweiteten Pupillen blickte sie den Fackeln entgegen, die einen langen Schatten voraus warfen. Mehrere Soldaten kündigten ihre Anwesenheit durch das Licht der Fackel, durch ihren Schatten und durch das Klingen ihrer Waffen und Rüstung an. Derbste Beleidigungen und Beschimpfungen wurden vom Schweigen der Männer des Dorfes quittiert. Mit hängenden Schultern und eingezogenen Köpfen wurden die gefesselten Gefangenen um die Häuserecke getrieben. Niemand beachtete das kleine Mädchen, welches sich dort an die Wand presste. Alle waren zu sehr mit sich und ihrer „Arbeit“ beschäftigt. Die Männer ihres Dorfes waren nicht wieder zu erkennen. Dem einen stand der Arm in einem merkwürdigen Winkel und bei allen war ein Ausdruck im Gesicht zu erkennen, den sie noch niemals zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. Angst ja, aber noch mehr. Es war, als wären dies die Gesichter von Toten. Und doch lebten sie, wurden mit Stöcken weiter getrieben, wie Vieh, welches man auf dem Marktplatz zusammen trieb.

Sie traute sich nicht zu blinzeln, spürte wie sich Wasser in ihren Augen sammelte, welches langsam ihre schmutzigen Wangen hinab rann und eine Straße des Drecks hinterließ. Keuchend stieß sie den Atem aus, konnte nicht hinsehen und fühlte sich wie gelähmt. Ihr Blick folgte den Männern des Dorfes, die an einer abschüssigen Stelle niederknien durften. Im lebendig erscheinenden Schein der Fackeln senkten sie die Köpfe, nachdem einer der Soldaten sie anbrüllte. Er schrie etwas von Verrat am Volke, von einer gerechten Strafe. Doch dies konnte nicht sein. Dies waren ehrbare, ehrliche Männer, die im Dienste Roms standen.

Vor den vier Männern bauten sich ebenso viele Soldaten mit Jagdspießen auf. Sie hörte das Schluchzen der Männer, das Flehen um Gnade, roch den Schweiß, konnte die Angst förmlich schmecken, als die Soldaten die Spieße senkten und auf Befehl in die Leiber der Männer rammten. Das Gurgeln der Sterbenden, das Keuchen, die Schreie hallten in ihrem Kopf wider wie ein sich immer wiederholendes Echo. Nicht alle waren gleich tot und so mussten ein paar Soldaten zu Hilfe kommen, den Spieß tiefer in die Eingeweide der Männer zu stoßen, bis die Körper keinerlei Widerstand mehr gaben und in sich zusammen sackten. Blut sickerte in den Boden und mit dem Aussetzen des Atem des Lebens, klangen die weiteren Geräusche im Dorf zu ihren Ohren. Das Geschrei ihrer Freunde, das Wehklagen der Frauen, welches sich in hysterisches Gekreische wandelte und irgendwann abrupt endete.

Entsetzt, die Hand vor dem Mund, unfähig die Augen vor der Grausamkeit zu verschließen, unfähig zu sprechen oder zu handeln. Unbeachtet kullerten die Beeren aus ihrer Schürze, ergossen sich auf dem Boden. Die sorgsam gesammelten Beeren waren jedoch nicht mehr von Belang. Die Angst hielt ihr Herz umklammert, welches wie ein verletzter Vogel in einer Hand flatterte und doch nicht in der Lage war zu fliehen. Sie spürte wie etwas warmes ihr Bein hinab rann und wenn sie ihren Blick, ihre Aufmerksamkeit von der sich abspielenden Szene hätte abwenden können, wäre sie wahrscheinlich peinlich berührt gewesen. Doch nun realisierte sie nichts außer dem Bild, welches sich langsam und stetig in ihrem Hirn einzubrennen schien.

Unerwartet konnte sie dann doch den Blick von dieser grotesken Karrikatur einer Dorfszenerie abwenden. Ein schriller Schrei ertönte in der aufkommenden Nacht. Ein Schrei, der ihr mehr ins Mark fuhr, als alles bisher Gesehene. Diese Stimme war ihr nur zu bekannt, zu vertraut. Allzu oft hatte diese Stimme sie in den Schlaf gelullt, hatte sie beruhigt, bei Sorgen, die sie plagten. Diese Stimme gehörte ihrer Mutter und zeugte von großen Qualen. Ihr Kopf wandte sich dem neuen Bild, ihrem eigenen Haus zu. Ihre Mutter wurde an den Haaren aus dem Haus gezerrt, nur in ein dünnes Baumwollhemd gekleidet, die wollende Unterwäsche schien sich verzweifelt an einem ihrer Füße festhalten zu wollen. Blau geschwollen war ihr geschundenes Gesicht, das liebliche Gesicht ihrer Mutter. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen keuchte das Mädchen, klammerte sich an der Häuserwand fest und konnte die Tränen nicht zurückhalten. Der Gestank von Blut, Urin und Tod wurde ihr nur allzu bewusst. Schluchzend fiel sie auf die Knie in den Matsch.

Der Anführer trat nun ebenfalls aus dem Haus. Durch den Schein der Fackeln zeichnete sich sein Gesicht deutlich ab. Die kantigen Linien dieser Visage, die zackige Narbe auf der rechten Wange und die harten, dunklen Augen. In dieser Beleuchtung machten sie den Anschein von dunklen Höhlen, die nur vom weiß der Augäpfel gestört wurden. Dunkles rotes Blut war in seinem Gesicht verschmiert und auch seine silberpolierte Plattenrüstung hatte auf dem Brustkorb den Abdruck einer blutigen Hand, die abgeglitten war, als wäre dem Opfer die letzte Gnade nicht gewehrt worden. Mit harscher Stimme befahl er, dass sich ihre Mutter niederknien sollte. Ihre Mutter weigerte sich, die Hände vorm Bauch gefesselt, den Blick starr in die Nacht gerichtet und die Lippen fest zusammengepresst. Die Antwort des Anführers kam sofort und sie wurde von einem der Soldaten in den Matsch des Weges gestoßen. Das weiß ihres Hemdes tränkte sich nun mit dem Dreck der Straße.

“Wo ist sie? Wo ist Deine Tochter, Metze?“, donnerte die Stimme des Anführers durch die Nacht. Das Mädchen zuckte zusammen, löste sich wie auf einen stummen Befehl heraus aus ihrer Kauerhaltung. Langsam richtete sie sich mit zitternden Beinen auf, sich immer noch im Schatten haltend. “Ich werde sie Euch nicht geben. Mein Mädchen wird Euch nicht in die Hände fallen!“ Ihre Mutter spuckte aus, ihr Blick verhöhnte den Mann vor sich. Trotz des Drecks und der Zeichen der bereits erlittenen Gewalt drückte ihre Haltung Stolz und Unbeugsamkeit aus. Das Mädchen zitterte, betete zu den Göttern, dass ihre Mutter verschont werden würde. Sie war der Himmel auf Erden, niemand konnte etwas böses von ihr wollen, denn ihre Mutter war zu sanftmütig, friedlich, tat ihrerseits keiner Menschenseele etwas zu leide.

Der Anführer schnaubte, wischte sich die Spucke ärgerlich aus dem Gesicht. Er trat einen Schritt auf sie zu, packte sie mit einer Hand im Haar und riss ihren Kopf nach hinten. Leise, befehlend redete er auf sie ein. Die Worte wurden vom Wind davongetragen und doch war der finstere Ausdruck auf dem Gesicht des Anführers nur zu deutlich zu sehen. Ihre Mutter riss ihren Kopf aus dem Griff, verzehrte das Gesicht vor Schmerzen, als der Anführer ein Haarbüschel in der Hand hielt, an ihrer statt. Abermals spuckte ihre Mutter aus. Der Anführer nickte und bevor das Mädchen die Bewegung sehen konnte, sackte der Kopf ihrer Mutter nach hinten. Ein Schwall Blut ergoß sich auf ihrem dreckigweißen Baumwollhemd. Ein Seufzen, den Hauch ihres Namens auf den Lippen sank ihre Mutter zu Boden. “Alva…..!“ Ihr Name durchdrang die Nacht bis zu ihr. Mit Fassungslosigkeit taumelte sie aus dem Schatten heraus, auf den Leib ihrer Mutter zu. “Mutter…“, keuchte sie bebend.

Langsam wandte der Anführer seinen Blick Alva zu. Ein zufriedenes Grinsen breitete sich in seinen kantigen Gesichtszügen aus und ließ die Narbe noch grotesker aussehen. Alva keuchte, nun vor Erschütterung ob ihrer Enttarnung. In ihrer Trauer, in ihrer Angst um ihre Mutter hatte sie nicht daran gedacht sich selbst zu schützen. Mit Panik in den Augen drehte sie sich um und begann zu laufen. Getrieben von der Angst spurtete sie zum Wald, hörte bereits Befehle hinter sich in der Nacht wie Donnergrollen aufbranden. Das Licht trat nun geballter auf und der Lärm sich bewegender Gerüsteten durchbrach die Stille der Nacht. “Alva, so bleibe doch. Wir wollen Dir nichts Übles!“ Natürlich wollten sie ihr übles. Sie malte sich in ihrem Inneren Bilder aus, was sie mit ihr anstellen würden, so sie ihnen in die Hände fiel. Automatisch einen Fuß vor den anderen setzend, konnte sie immer noch nicht das gesehen verarbeiten. Ihre Mutter sollte tot sein? Niemals. Sie würde später nach ihr schauen. Später, viel später.

Das Kläffen von Hunden deutete an, dass der Anführer nicht allein auf die Jagd nach ihr gehen würde. Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse, während sie stolpernd durch den Wald rannte. Äste schlugen ihr ins Gesicht, zerrten an ihrer Kleidung, an ihren Haaren, schien sie aufhalten zu wollen. Ein Gedanke blitzte in ihr auf.
Minas Bellorum – die Hauptstadt des Ordens der Rose. Dort würde sie untertauchen, dort würde sie niemand finden, dort würde sie in Sicherheit sein. Die Angst, die sie verspürte hielt ihr Herz umklammert. Sie spürte einen dicken Kloß im Hals, der sie bei jedem Schritt Richtung Sicherheit behinderte. Die Luft blieb ihr weg, ob durch das Einschnüren ihres Herzens oder durch die Anstrengung des Laufens. Die Geräusche hinter ihr wollten jedoch nicht verstummen, trieben sie immer weiter, immer tiefer in den Wald hinein. Weiter, immer weiter, nur nicht aufhören zu laufen, denn dann wäre sie verloren. Alva spürte den Atem des Anführers in ihrem Nacken, hatte das Gefühl, dass die Hunde jede Sekunde hinter ihr durch das Gebüsch zu brechen drohten.

Alva hörte Rufen, hörte jemanden ihren Namen wieder und wieder rufen und doch hielt sie nicht an. Dies war keine vertraute Stimme, dies war die Stimme von ihm. Er wußte ihren Namen, er würde kommen und sie holen. Er würde sie ebenso töten, wie ihre Mutter. Auch ihr Blut würde die Erde tränken und dann würden die Hunde sich an ihrem Fleisch gütlich tun. Alva hielt einen Moment inne, suchte nach Atem. Sie war am Ende und das wußte sie. Lange würde sie nicht mehr laufen können. Blutige Striemen der Äste, denen sie nicht auswich zeichneten ihr Gesicht. Ihr wollendes Kleid war an einigen Stellen eingerissen, wo es in den Dornen hängen geblieben war. Schweiß rann ihren Rücken herab, so dass die Kleidung bereits an ihrem Körper klebte. Heftig hob und senkte sich ihr Brustkorb, das Herz pumpte immer weiter Blut durch den jungen Körper. Sie klammerte sich an einen der großen, alten Bäume, suchte für einen Moment Halt.
Atmen, ruhig atmen. Bald würde sie an ihrem Ziel sein und im Gewirr der Stadt verschwinden. Sie würden sie nicht finden, sie durften sie nicht finden. Natürlich wollten sie ihr Übles. Sie malte sich in ihrem Inneren Bilder aus, was sie mit ihr anstellen würden, so sie ihnen in die Hände fiel. Nach Atem ringend, konnte sie immer noch nicht das Gesehene verarbeiten. Ihre Mutter sollte tot sein? Niemals. Sie würde später nach ihr schauen. Später, viel später.

Wie erwartet wurde das Kläffen der Hunde lauter. Sie hatten ihre Fährte natürlich nicht verloren, witterten ihre Spur nur zu deutlich. Alva taumelte weiter, ließ ab vom Baum und mobilisierte ihre letzten Kraftreserven. Weit war es nicht mehr, es durfte einfach nicht mehr weit sein. Schwankend lief sie weiter, spürte die Verfolger im Nacken. Sie sah das Zurückweichen der Bäume bereits, konnte die Festung in weiter Ferne erahnen, als sie eine Lichtung auf dem Weg zur Baumgrenze erreichte. Sie stolperte, spürte, wie ein Ast sie für ein paar Sekunden festhielt. Sie riss sich los und taumelte weiter. Ihr fehlte mit einem Mal die Kraft und sie sackte auf die Knie. Das Luft holen wurde immer drückender und so fuhr sie ihren Brustkorb mit der Hand hinab und stoppte. Mit vor Schreck, Entsetzen und Ungläubigkeit geweiteten Augen starrte sie auf das Blut in ihrer Hand. Ihr Blick wanderte zu dem Pfeil, der aus ihrer Brust herausragte. Langsam schwand das Bild und Dunkelheit umfasste sie schleppend. Das Letzte was sie wahrnahm, war der Schmerz in ihrer Brust, der sich ausbreitete, die Kälte der Nacht und ein irres, fast befriedigendes Lachen. Vorsichtig, keine Spuren hinterlassend zog sich der Schatten eines Mannes in den Wald zurück. Er hatte es vollbracht. Sie war tot.


Rael erwachte langsam aus ihrem Traum von grünen Wiesen und einem Spaziergang am See. Sie liebte solche Träume, waren sie doch sehr selten und umso mehr schätzte sie diese. Sich streckend gähnte sie und schaute sich einen Moment lang auf der Lichtung um. Sie war genauso friedlich und still, wie vor ihrem Nickerchen. Mit einem Lächeln auf den Lippen, schüttelte sie den Schlaf aus ihren Augen und Körper. Sich langsam auf das Hier besinnend, wurde Rael gewahr, dass ihre Hand mit etwas im Gras spielte. Gedankenverloren hob sie es auf und betrachtete es. Das Eisen der Pfeilspitze hatte durch das Braun viel an seinem Glanz verloren und es dauerte ziemlich lange bis Rael realisierte, dass es sich um getrocknetes Blut handelte. Erschrocken sprang sie auf, blickte sich vorsichtig um. Sie schnupperte zaghaft an der Pfeilspitze, suchte einzuschätzen, wie alt das Blut war, als ihr der Rest des Pfeiles auffiel, der ebenfalls nicht weit von ihr entfernt im Gras der Lichtung lag. Schwarze Federn, die gespreizt waren und ebenfalls von einer braunen Flüssigkeit überzogen waren. Rael schrie vor Schreck und mit einem Mal fiel ihr auf, dass der Wald still war. Keine Vögel, die ihr Lied sangen, kein Windstoß, kein Rascheln im Busch. Stille. Stille, die durchbrochen wurde von dem Schrei Raels, der unnatürlich laut durch den Wald hallte und wieder und wieder gebrochen und zurückgeworfen wurde.
[Bild: 6_rael1132.jpg]
Temperament ist ein vorzüglicher Diener, doch ein gefährlicher Herrscher.
04.05.2007, 12:36