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Das Tagebuch des Herrn K. - Druckversion

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Das Tagebuch des Herrn K. - Anonymous - 04.11.2004

Das Tagebuch des Herrn K.

Tag 1: Der nächtliche Bote

Wer auch immer diese Zeilen zu Gesicht bekommen mag, es sei bereits an dieser Stelle erwähnt, dass ich sie mit zitternder Hand verfasse, in der bangen Hoffnung, dass mein schriftstellerisches Geschick ausreichen möge, die Ereignisse dieses, an ungewöhnlichen Vorkommnissen alles andere als armen, Tages angemessen zusammenzufassen. Doch der Reihe nach...

Nachdem ich vor kurzem die Provinz Aegypten verlassen, nach Rom gereist und im dortigen Forum eine Nachricht hinterlassen hatte, um meine Fähigkeiten einer anderen Gemeinschaft als der der Aegypter anzubieten, weckte mich in der vergangenen Nacht ein leises Klopfen an der Tür zum von mir jüngst angemieteten Zimmer einer Herberge in Esquilin. Ein wenig verärgert ob der nächtlichen Störung und im festen Glauben, dass es sich bei meinem späten Gast um niemand anderes als einen weiteren Boten handeln konnte, der mich von den Vorzügen seiner Heimat zu überzeugen suchte, öffnete ich die morsche Holztür, deren Knarren wohl ausgereicht haben muss, die Bewohner der gesamten umgebenden Insulae aus dem Schlaf zu reissen. Mein Blick fiel auf die Türschwelle, wo nur noch ein dort liegen gelassener Brief davon kündete, dass gerade noch jemand hier gestanden haben musste. Als ich jedoch in den, nur von wenigen Öllampen erleuchteten, Gang spähte, meinte ich eine Gestalt auszumachen, die, seltsam hinkend und schlurfend, um die Ecke des Flures bog und verschwand. Im festen Willen, den nächtlichen Störer zu stellen und mit seiner Unverfrorenheit zu konfrontieren, hastete ich ihm hinterher und bog um die beschriebene Ecke, hinter der eine schmale Treppe in den zu dieser späten Stunden leeren und unbeleuchteten Schankraum führte. Auf dem Absatz angekommen, brauchte ich erst einmal ein Weilchen, um meine Augen an die nunmehr fast vollständige Dunkelheit zu gewöhnen. Ausser einem leisen Scharren, das gut auch von einer schmatzend ihrem Tagewerk nachgehenden gemeinen Ratte hätte stammen können, war nichts zu hören. Einer Eingebung folgend, griff ich zu einer der wenigen Öllampen, die den Gang säumten und machte mich auf den Weg in den Schankraum, die schmale Treppe hinunter.
Die Ereignisse überschlugen sich: Ich sah, wie sich die Tür zur Strasse öffnete und eine gebeugte Gestalt, die sich im verbliebenen Licht des Mondes abzeichnete, aus der Tür schlüpfte, als ich urplötzlich den Halt verlor und rücklings auf die Treppe stürzte. Der Schmerz, der sich daraufhin in meinem Rücken ausbreitete, vertrieb jeden Gedanken an eine weitere Verfolgung und ich brauchte eine Weile, um mich wieder, leise auf meine mangelnde Umsicht fluchend, aufzuraffen. Ich hielt meine noch immer sanftes Licht spendende Lampe hoch, und untersuchte die Stufen der hölzernen Treppe, um die Ursache meines Sturzes zu erkunden. Ich wurde rasch fündig. Eine Öllache war auf zweien der Stufen platziert worden - offenbar hatte mein nächtlicher Besucher Vorkehrungen getroffen, um eine direkte Begegnung zu vermeiden.
Mein nun doch reichlich in Mitleidenschaft gezogenes Rückgrat in der bangen Hoffnung auf Linderung reibend, machte ich mich wieder auf den Weg in mein Zimmer und war fast ein wenig überrascht, die auf meiner Türschwelle noch immer auf mich wartende Botschaft zu erspähen. Einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, sie sogleich dem in meinem kleinen Kamin lodernden Feuer zu übergeben, schliesslich jedoch siegte die Neugier und ich nahm sie an mich. Nun schon sämtliche Götter meiner einstigen Heimat für mein schmerzhaftes Ungemach leise verfluchend, setzte ich mich auf den einzigen Stuhl, den man in dieser Herberge den Mietern der billigeren Zimmer gönnte und machte mich im spärlichen Licht der Öllampe daran, dass bei näherer Betrachtung etwas seltsam wirkende Siegel aufzubrechen und zog ein kleines Pergament heraus.
Da die Nachricht die Bitte enthielt, sie gleich nach dem Lesen zu verbrennen, ist es mir hier nicht möglich sie Wort für Wort wiederzugeben. Es sei jedoch erwähnt, dass es sich, zu meiner großen Überraschung, um eine Nachricht meines alten Weggefährten Bubunator handelte, in der er mich bat, mich seiner neuen Gemeinschaft anzuschliessen. Die Nachricht, dies will ich nicht missen zu erwähnen, war zwar in der unverkennbaren Handschrift Bubunators verfasst, sowohl die ungewöhnlich pragmatische Wortwahl, als auch die etwas hektisch und zerstückelt wirkende Handschrift jedoch, liessen mich aufmerken und weckten meine Neugier. Hatte das Orakel etwa, nach seinem Ausscheiden aus der Drachenlegion, etwas zu sehr dem Wein zugesprochen? Ähnlich sähe es ihm ja, dachte ich schmunzelnd und machte mich daran, den über alle Maßen verschnörkelten Namen der Gemeinschaft zu entziffern, der er nun offenbar angehörte. Nach einigem Drehen und Wenden der Nachricht unter dem für diesen Zweck unzureichenden Licht der Lampe, deutete ich das Gewirr als "Monasterium Noctis". "Kloster der Nacht" übersetzte ich reflexartig ins aegyptische, setzte mich auf und übergab die Nachricht den leise lodernden Flammen.
Mein anschliessender Versuch, sogleich ins Reich des Schlafes zurückzufinden, wurde durch die, vor allem in Anbetracht der späten Stunde, turbulenten Ereignisse der jüngsten Vergangenheit vereitelt. Ich beschloss, mich schon am morgigen Abend in Richtung des Viminal zu begeben, wo, laut der Beschreibung Bubunators, dessen neue Heimat liegen musste und der Sache auf den Grund zu gehen, bevor ich endlich Schlaf fand.

Tag 2: Das Kloster der Nacht

Der verbleibende Teil der Nacht verlief ereignisslos, ebenso wie der kommenden Tag, an dem ich mich vornehmlich der Beantwortung der zahlreichen Angebote zu widmen hatte, doch immer wieder schweiften meine Gedanken zu den seltsamen Begebenheiten der vergangenen Nacht und dem ungewissen Schicksal meines einstigen Gefährten. Noch immer beschlich mich ein beklemmendes Gefühl, wenn ich an die Eigenartigkeit des Ausdrucks und der Handschrift dachte, die die Nachricht geprägt hatten.

Die Dämmerung hatte sich bereits über Rom gelegt, als ich endlich auch die letzte Absage einem jungen Sklaven in die Hand gedrückt hatte, der sie zu seinem Bestimmungsort bringen sollte und dafür ein Kupfer-As erhielt - ein üppiger Lohn für einen solchen Dienst. Alsbald raffte ich meine wenigen Habseligkeiten zusammen und stopfte sie, entgegen meiner Art recht unachtsam, in mein Reisegepäck. Ich wollte mich unbedingt noch vor dem endgültigen Einbruch der Nacht an dem Ort einfinden, der mir genannt worden war, da die Gegend und den Viminal mir nicht die Vertrauteste war.
Es schien zu meinem Glück der letzten Tage zu passen, dass, kurz nachdem ich mich auf den Weg gemacht hatte, ein leichter Nieselregen einsetzte, der mir fürderhin ein ständiger Begleiter sein sollte. Mich in mein Schicksal fügend setzte ich meinen Weg fort, meinen gebogenen Krummdolch stets griffbereit unter meiner zweifellos etwas exotisch anmutenden Tunika. Die Strassen Roms waren nach Einbruch der Dunkelheit ein gefährliches Pflaster. Strassenbanden und gemeine Diebe übernahmen zu dieser Stunde die Kontrolle über ihre Gebiete und lösten damit die zahlreichen Händler, Sklaven und freien Bürger Roms ab, die sich des Tages auf diesen Strassen und Gassen tummelten.
Am Fusse des Vimanals angekommen, verlor ich im für Aegypter noch immer ungewohnten Gewirr der abendlichen Gassen Roms schnell die Orientierung. Der Versuch, mich bei einigen der vertrauenswürdigeren Gestalten, die ich dort antraf, nach dem Weg zu erkundigen, scheiterte kläglich - offenbar hatte niemand bislang auch nur den Namen besagten Klosters vernommen. Der Zufall war es schliesslich, der mich wieder auf meinen Weg brachte, als ich an einen reich verzierten Brunnen gelangte, bei dem es sich nur um denjenigen handeln konnte, der mir noch aus der kärglichen Wegbeschreibung im Gedächtnis verblieben war. Von hier aus führte mich der Weg hinaus aus den engen Gassen, um schliesslich vor einer, lediglich von einigen dem Zerfall übergebenen Bauruinen gesäumten, Freifläche zu enden, auf der sich unmissverständlich das Gebäude erhob, dem meine abendliche Suche galt. Im Näherkommen, drängte sich mir der Eindruck auf, dass es sich bei dieser Anlage einmal um einen Tempel des Mars gehandelt haben musste. Wahrscheinlich, so dachte ich bei mir, hatte man diese Stätte schon vor geraumer Zeit zugunsten einer protzigeren Tempelstätte aufgegeben und der Verwahrlosung überlassen, was in Rom keinesfalls unüblich war. Trotz der Tatsache, dass die Front dieses Gebäudekomplexes dringend einer Restauration bedurft hätte, vernahm ich seichtes Licht, dass aus einigen der zur, nicht minder der Reparatur bedürfenden, Strasse gelegenen Fenstern drang. Die verwitterten Darstellungen des Mars, die an den Flanken des kurzen Weges zum Tor des Gebäudes platziert worden waren, machten keinen minder maroden Eindruck. Den meisten Darstellungen des Kriegsgottes war überdies schlicht der Kopf abgeschlagen worden, was wiederum, so jedenfalls das Ergebniss meiner oberflächlichen Untersuchung, erst in jüngster Vergangenheit geschehen sein musste.
Mit einem kurzen Griff unter meine, vom andauernden Nieselregen klamm gewordene, Tunika, vergewisserte ich mich, dass mein Dolch an Ort und Stelle war und suchte das eiserne Tor des Klosters nach einer Möglichkeit ab, mich bemerkbar zu machen. Ich fand einen schweren Türklopfer, der einst kunstvoll das Antlitz des Mars wiedergespiegelt haben musste, nun jedoch zerkratzt, entstellt und augenlos den Besucher willkommen hiess und betätigte ihn nach kurzen Zögern. Irgendetwas an dieser nächtlichen Szenerie erschien auf bizarre Wiese nicht richtig zu sein. Wieder einmal drängte sich mir der Gedanke auf, dass hinter diesen Türen vielleicht mehr läge, als allein anhand der ohnehin schon zur Genüge seltsamen Anmutung des religiösen Baus zu vermuten wäre.
Ein Geräusch, das offenbar hinter den verwitterten Mauern seinen Ursprung hatte, schreckte mich aus meinen Gedanken und kurz darauf glitt die eiserne Tür des Klosters auf.

Eine Frau stand auf der Schwelle. Sie war von Kopf bis Fuss in Schwarz gekleidet, dass in starken Kontrast zu Ihrer Haut stand, die den Eindruck weckte, schon seit geraumer Zeit keinen Sonnenstrahl mehr empfangen zu haben.
"Salve", sagte ich, ob der seltsamen Gestalt nun doch etwas verunsichert, "...ich bin...".
"Wir wissen, wer Ihr seid, werter Kostolain," unterbrach mich die Gestalt, "tretet ein". Mit diesen Worten wandte sie sich um und ich folgte Ihr ins Innere des Klosters.
"Folgt mir", sagte sie in einer überaus samtigen Stimme und ohne sich noch einmal nach mir umzuwenden machte sie sich auf den Weg durch die Eingangshalle in Richtung eines einstmals sicher imposanten, nun jedoch nur noch bedauernswert baufälligen, Treppenaufgangs, der in die Dunkelheit der oberen Stockwerke des Gebäudes führte. Ich folgte wie gehiessen und stellte fest, dass man sich im Inneren des Klosters offenbar mit der Zerstörung der zahlreichen Statuen zurückgehalten hatte und stattdessen dunkle Laken über die Bildnisse des Gottes gehängt hatte, die seine imposante Gestalt verhüllten. Am ersten Treppenabsatz angekommen, bog sie in einen der Gänge ein und mir bleib nichts als ihrer anmutigen Gestalt zu folgen und abzuwarten, wo unsere Führung endete. Vor einer der schweren Holztüren am Ende des Ganges machte sie Halt und wandte sich nach mir um.
"Euer Gemach für die Nacht, werter Kostolain", erklärte sie, und stiess sacht die Tür zum dahinter liegenden Raum auf.
Ich trat ein und sah mich um. Der Raum war nur durch ein Feuer erleuchtet, das in einem kleinen Kamin in einer Ecke des Gemaches loderte. Ansonsten war die Einrichtung zwar alles andere als dem Luxus verschrieben, jedoch funktonal und vor allem: alt.
Etwas Brot und Käse, sowie ein wenig mit Wasser verdünnter Wein, standen auf einem Tisch in der Ecke.
Noch immer die Einrichtung studierend, sagte ich, vielleicht etwas zu beiläufig: "Ich möchte gerne einen Eurer... Brüder sehen. Bubunator...wo genau finde ich Ihn?"
Als ich darauf keine Antwort erhielt, wandte ich mich um und musste feststellen, dass ich allein war. Die Tür war hinter mir geschlossen worden und allein das leise Knistern der brennenden Holzscheite drang an mein Ohr. Einen kurzen Moment lang war ich der Überzeugung, die Tür sei hinter mir verschlossen worden und ich verfluchte mich selbst für meine mangelnde Aufmerksamkeit, stellte jedoch fest, dass sich die Tür, sehr zu meiner Beruhigung, sehr wohl öffnen liess. Von der "Dame des Hauses" war indes keine Spur mehr zu sehen.
Ich beschloss, mich kurz an dem dargebotenen Mahl gütlich zu tun, bevor ich mich wieder hinaus auf den Gang wagen würde, um das alte Gemäuer zu erkunden. Sowohl das Brot als auch der Käse hatten jedoch den Zenit Ihrer Schmackhaftigkeit lange hinter sich gelassen und so begnügte ich mich damit, ein paar Happen davon herunterzuwürgen.
So fand ich mich schon kurz darauf auf dem Gang stehend wieder, in der Hand eine Öllampe, die so alt zu sein schien, wie das gesamte Kloster, oder gar der Gott, zu dessen Huldigung es einst diente. Ich begab mich wieder den Flur entlang, bis ich erneut zu dem Treppenabsatz gelangte, auf dem er mündete. Ausser dem prickelnden Klang des langsam stärker werdenden Regens an die wenigen und zudem vergitterten Fenster der Eingangshalle, herrschte absolute Stille und ich machte mich daran, die monumentale Freitreppe wieder hinabzusteigen.
Unten angekommen, jedoch bar jeden konkreten Zieles, das mich auf meiner Suche hätte leiten können, trat ich näher an eine der verhüllten Statuen heran. Sie waren nicht sonderlich gross, jedenfalls nicht für römische Verhältnisse, und maßen abzüglich des Sockels ca. drei Ellen. Gerade wollte ich mich wieder abwenden, als mir etwas ins Auge fiel. An einer der gegenüberliegenden Statuen war die gewünschte Verhüllung nicht vollständig gelungen und man konnte etwas erkennen, dass offenbar einen Fuss darstellen sollte. Ich trat näher und erstarrte, als ich entdeckte, dass es sich bei dem unverhüllten Teil der Statue keineswegs um die wuchtigen Fesseln des Kriegsgottes handelte, ja nicht einmal um einen menschlichen Fuss. Es schien sich vielmehr um eine Art Tentakel zu handeln, der sich im weiteren Verlauf um den Sockel wand und schliesslich auf der mir abgewandten Seite des Hallenbodens sein Ende fand.
Mit zitternden Händen griff ich nach dem Tuch, das die Statue verhüllte und zog daran. Ungläubig hob ich die Lampe und starrte auf das entsetzliche Abbild einer Kreatur, über die eine hinreichende Beschreibung abzuliefern mir nicht gelingen würde, so sehr ich mich auch bemühte, denn das widerwärtige Etwas, dass mich aus ausdruckslosen Augen zu taxieren schien, wirkte einerseits so lebensecht und auf der anderen Seite derart widernatürlich, dass jede Beschreibung seiner konkreten Gestalt scheitern muss. Demjenigen jedoch, der, auf welchem Wege auch immer, in Besitz dieser Zeilen zu kommen vermag, sei gesagt, dass mich die Darstellung so verstörte, mich in den Grundfesten meiner bis dahin als ehern betrachteten Grundsätze der Vernunft erschütterte, dass ich die Lampe fallen liess und nicht umhinkonnte, den Weg, den ich gerade erst gekommen war, zurückzueilen, in mein Zimmer zu flüchten und die Tür hinter mir sogleich provisorisch zu verriegeln.
Schwer atmend warf ich mich auf das bereitgestellte Bett - nun, es ist wohl eher eine Pritsche - und versuchte, wieder zu Sinnen zu kommen, was mir anfangs trotz ernsthaftester Anstrengungen nicht glücken wollte. Die Nacht war bereits vollständig hereingebrochen als es mir gelang, wieder Tuchfühlung mit meinem Verstand aufzunehmen und die jedes Denken erstickende Panik zu verdrängen, die mich von dem Moment an, als ich das groteske Machwerk in der Halle erblicken musste, verfolgt hatte. Ich erwog kurz, mich sogleich zurück auf die nächtlichen Strassen Roms zu flüchten, verwarf den Gedanken jedoch rasch. Einerseits war ich auch ohne handfesten Beweis sicher, dass man mittlerweile auf meinen Rundgang aufmerksam geworden war und Massnahmen ergriffen hatte, mich nach meiner offensichtlichen Entdeckung an diesem Ort festzuhalten, andererseits befand ich mich in einem Zustand der Erschöpfung, der allein mit den körperlichen Strapazen des Tages nicht zu erklären war.
Ich entschied mich stattdessen, den von mir mitgeführten Beutel nach Pergament und Schreibzeug zu durchwühlen und die Geschehnisse des heutigen Tages zu Papier zu bringen. Meine Gedanken auf diese Weise zu ordnen, hatte mir schon in der Vergangenheit häufig geholfen, Lösungen für zunächst unlösbar anmutende Probleme zu finden. Ich hoffe, ja ich bete, dass mir dies auch in diesem Fall gelingen möge...


- Anonymous - 05.11.2004

Die folgenden Zeilen wurden mit ungeübter Hand verfasst. Ich bitte darum, etwaige Unleserlichkeiten zu verzeihen.

Tag 2/3: Traum und Wirklichkeit

Wider meiner festen Erwartung und inneren Konstitution, brachte die Nacht den Schlaf mit sich. In dieser Nacht jedoch, bot auch er keinen sicheren Hafen vor den Ereignissen des vergangenen Tages und auch nicht vor der eigenartig verseuchten Atmosphäre des dunklen Gemäuers, in das es mich verschlagen hatte. Träume, die den Rahmen dessen, was man gemeinhin mit dem Wort "Albtraum" beschreibt, bei weitem sprengten, suchten mich heim und erweckten die just verdrängte Panik von Neuem.

Unsichtbare Flügel trieben meinen Körper in wahnwitziger Geschwindigkeit über bizarre Landschaften von unsagbarer Andersartigkeit. Monumentale Gebirgszüge, karge Steppen und seltsam verpestet anmutende Landstriche wichen nach und nach der offenen See. Ganze Meere, ja Ozeane glitt ich, hilflos gefangen in wildestem Flug und ohnmächtig den Mächten des Windes überlassen, über sturmgepeitschte Wogen und spiegelglatte See. Ständiger Begleiter auf meiner Reise durch die Traumlande war die Gewissheit, dass die Welt, die sich so bereitwillig meinen Blicken preisgab, zwar der unseren ähnelte, ihr jedoch nicht vollends glich, sondern ihr sogar hinsichtlich der auf unserer Welt verbindlich geglaubten Naturgesetze geradezu widersprach.
Die Kälte und den unvermindert an meinen Kleidern zerrenden Wind auch in meinem realen Selbst deutlich verspürend, sprengte ich träumend durch die Nacht, die sich allmählich über den tosenden Ozean gelegt hatte und fand schließlich die Bestätigung meiner Vermutung. Nichts an dem gestirnten Himmel dieser Welt entsprach dem, was ich jemals von aegyptischen Astronomen über die Beschaffenheit des Kosmos erklärt bekommen hatte. Im Traum vermeinte ich zu spüren, wie mein reales Selbst sich beim Anblick der zwei Monde, die sich langsam inmitten des strahlenden Nachthimmels zu entlarven begannen, in Krämpfen wand.
Minuten oder auch Äonen später kroch erneut die Panik, einer schwarzen Viper gleich, in mein Bewusstsein und streute, wie von blinder Wut getrieben, Ihr Gift in mein Denken - war die Reise bislang zwar in halsbrecherischem, jedoch zumindest gleich bleibendem Tempo verlaufen, gewann ich nun rasch die Gewissheit, dass ich an Fahrt und Höhe verlor. Schon sah ich mich hilflos in den, nun immer ohrenbetäubender rauschenden, Wogen versinken und einem kalten Grab auf dem Grund dieses unbekannten Ozeans entgegenstürzen.
Mein Fall endete jedoch abrupt etwa 50 Ellen über der Wasseroberfläche, wo die Kronen der, sich unter mir in wildem Tanz auftürmenden und wieder aneinander zerschellenden, Brecher meine Beine mit Eiseskälte überzogen.
Noch immer glitt ich durch diese, einzig dem Sturm und seiner schier unendlichen Wut geschuldete, Nacht, als sich, verdeckt von der Gischt der Wellen und den unnachgiebig prasselnden Regenfluten, die Kontur einer Erhebung ausmachen konnte, die, entgegen des sich ständig in Bewegung befindlichen Wassers, in unwirklicher Stille dalag. Ich brauchte nur einen Moment, um das sich verringernde Tempo und die seltsame Erscheinung in diesem Ozean in Verbindung zu bringen - hier lag das Ziel meiner Reise.
Ein tiefes Unbehagen ergriff Besitz von mir. Das Gefühl, nicht an diesem Ort sein zu dürfen, etwas seltsam Verbotenes zu erblicken, wurde übermächtig, doch auch die größte Anstrengung meines Willens wollte nicht genügen, mein Bewusstsein zurück in unsere Welt zu zwingen. So fand ich mich schließlich, sachte im frostigen Wind schwebend, vor der Küste einer kleinen Insel. Beißender Gestank brannte sich in meine Nasenflügel, war jedoch nicht zu vergleichen, mit den Qualen, die mir der Anblick dieses von den Göttern verlassenen Ortes bereitete. Kein Fleck der Insel schien unbelastet von der allgegenwärtigen und über alle Maßen lebensverneinenden Aura dieser Insel. Der gigantische Felsen, der im Zentrum des Eilandes thronte, glich einem Tafelberg. Irgendetwas schien die Macht besessen zu haben, ihn seines Gipfels zu berauben. Doch was immer dies vollbracht haben mochte, es hatte sich damit nicht zufrieden gegeben. Die gesamte Fläche des Felsens war mit bizarren Verzierungen versehen worden, nur unterbrochen von einer Handvoll schlanker Türme und im Ungewissen mündender Tunnel, die wie in den Fels geschlagene Wunden anmuteten. Auf dem schmalen Küstenstrich, der den entstellten Berg umgab, war jegliches Leben lange verloschen. Rotbrauer Staub und dunkles Gestein formten wellenartige Formationen, die den Anschein erweckten, das Leben sei auf seiner Flucht vor irgendeinem unbekannten Bösen erstarrt und zu Staub zerfallen. Ein Grollen erscholl aus dem Inneren des Berges und mein allmählich den Halt verlierender Geist wand sich erneut in Schmerzen, brachte dieses berstende Geräusch, das sogar das Tosen der anbrandenden Fluten übertönte, doch das unbarmherzige Wissen mit sich, dass sich nun das Eintreffen desjenigen Wesens ankündigte, das der Urheber sowohl der Verwüstungen auf der Insel, als auch der jüngsten Ereignisse in meinem Leben war. Mein Versuch, die Augen vor diesem drohenden Anblick zu verschließen, scheiterte. Eine unsichtbare Gewalt schien die Kontrolle über meinen Körper ergriffen zu haben und verhinderte von nun an nachhaltig, dass ich meine Augen auch nur für einen Augenblick schließen konnte, was mir jedoch zumindest die Gnade erwies, dass meine Augen nunmehr schutzlos dem aufspritzenden Salzwasser ausgesetzt waren und ich nicht die volle Wirkung dessen zu ertragen gezwungen war, was sich nun aus der riesigen Gipfelplattform zwängte. Wieder einmal versagen an dieser Stelle meine schriftstellerischen Möglichkeiten kläglich und doch zweifle ich daran, dass auch der größte Meister des Wortes es bewerkstelligen könnte, diese Monstrosität auch nur einer ungefähren Schilderung zu unterziehen. Eines vermag ich jedoch trotz meiner tränengefüllten Augen mit Gewissheit zu sagen: Was mir dort, an diesem verfluchten Ort in den Träumen, begegnet war, war ebenjene unheilige Wesenheit, die mich erst am gestrigen Abend aus den ausdruckslosen, steinernen Augen einer Statue in der Vorhalle des Klosters fixiert und an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte.

Ich erwachte schreiend. Schwer bedrängt von rasender Angst und Sorge um meine Verstandesfähigkeiten, kauerte ich mich schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd in die Zimmerecke, die meinem Bett am nächsten war. Der Raum lag in beinahe vollständiger Dunkelheit, was ich erst wahrnahm, als ich nach langem inneren Ringen den Mut fand, meine Augen zu öffnen. Langsam begann sich mein Geist wieder zu fangen, doch wurde die Angst nur abgelöst von unerträglichen Schmerzen, die sich über meinen rechten Arm ergossen, um schließlich in meinem Kopf zu kulminieren. Wieder schrie ich auf, selbst entsetzt über die Kläglichkeit, die meiner Stimme innewohnte. Nach der Ursache der Pein forschend, hielt ich meine Hände in den matten Schein des Mondlichts, der durch das Fenster eindrang, nur um sogleich vor Wut und Schmerz erneut aufzubrüllen. Die Kuppen des Zeige- und Mittelfingers meiner rechten Hand hatten sich in blutende Stümpfe verwandelt, die unablässig brennenden Schmerz durch meinen Leib pumpten. Ächzend und Halt suchend richtete ich mich auf und entzündete mühselig die Öllampe, die den Raum sogleich in warmes Licht tauchte. Ungläubig blickte ich mich um. Alle Wände des Raumes waren mit Blut bekritzelt worden - meinem Blut, korrigiert ich mich. Ich trat näher an eine der besudelten Wände heran, wobei sich mein erster Eindruck bestätigte - es handelte sich bei allen Versen um ein und denselben Reim:

"Es ist nicht tot, was ewig liegt,
bis dass der Tod die Zeit besiegt."