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Morgen-Grauen (Tirgatao)
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Beitrag #4
 
Am Morgen des Duells, im Zelt von Ritter Lucianus
Silvanis lief unruhig auf und ab. Er war nervös, er hatte Angst und er war unsagbar wütend. Lucianus hatte am gestrigen Abend kaum Worte gefunden, um ihm zu beschreiben, was auf der Straße passiert war, und Silvanis hatte seinem älteren Bruder fast jedes Wort aus der Nase ziehen müssen, um herauszufinden, was nun genau geschehen war, das dieses Duell rechtfertigte. Und nun wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass sich die Hölle auftun und Regulus von Hohenburg verschlingen möge. Wie konnte er es wagen, Lucianus so zu schmähen? Von Regulus’ schamlosen Lebenswandel konnte niemand weiter entfernt sein als Lucianus, der, soweit Silvanis wusste, nicht einen einzigen Bastard gezeugt hatte und sich seit Jahr und Tag verantwortungsbewusst um Burg und Ländereien kümmerte. Und ganz sicher hatte Lucianus nie einen Knaben oder Mann auf diese Art angesehen.

Ein wenig nagte die Scham in Silvanis, schließlich konnte er nicht abstreiten, dass die Beleidigungen auf ihn bis zu einem gewissen Grad zuträfen. Es hatte ihn noch nie nach Knaben gelüstet, immer nur nach Männern, die mindestens sein eigenes Alter hatten, - wenn auch ganz sicher nie nach seinem älteren Bruder! - doch er konnte wohl kaum leugnen, dass er sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlte. Es war sein bestgehütetes Geheimnis, und er lebte in der ständigen Angst, jemand könne Falco und ihn enttarnen. Dennoch war die Angst nie groß genug, ein Treffen mit Falco zu verweigern. Sie konnten sich sowieso nicht ständig sehen, zu verdächtig wäre es, würden sie immer und überall gemeinsam gesehen. Und so trafen sie sich hauptsächlich auf Turnieren, von denen sie sich als einfache Leute gekleidet zu geheimen Treffpunkten davonschlichen, die sie nach einem halben Tag oder Tag gemeinsam auf unterschiedlichen Wegen wieder verließen. Jedes Mal brauchten sie Ausreden ihrer Familie gegenüber, mussten lügen, um nicht entlarvt zu werden, und Silvanis bedauerte es, seinem Bruder gegenüber nicht ehrlich sein zu können. Doch er wusste genau, dass Lucianus für diese Liebe niemals Verständnis haben würde, und er war nicht bereit, Falco aufzugeben.

Irgendwann würden ihre Treffen wohl aufhören müssen, keiner von ihnen würde ewig den Fängen eines Eheweibes entkommen können, sie würden Verantwortung für eine Frau und wohl auch Kinder übernehmen würden und es würde nicht mehr so einfach möglich sein, für einen ganzen Tag in eine Hütte im Wald oder an einen ähnlichen Treffpunkt zu entschwinden. Doch bis dahin wollte Silvanis diese Liebe genießen, diese Treffen.

Lucianus’ schwerere, leicht unregelmäßige Schritte rissen Silvanis aus seinen Gedanken. Sein älterer Bruder hinkte ziemlich, die Beinwunde vom Turnier machte ihm Schwierigkeiten. Und er sah so unendlich müde aus, fand Silvanis. Lucianus musste die halbe Nacht wachgelegen und sich gesorgt haben. Immerhin hatte er eine Frau und drei Kinder zu Hause, ein viertes auf dem Weg. Was der Grund war, weshalb er sein Eheweib auf der heimischen Burg zurückgelassen hatte. Jeder wusste, dass Regulus von Hohenburg trotz seiner Trunksucht kein schlechter Kämpfer war, vor allem jedoch einer, der mit voller Kraft angriff und bei dem man nie genau wusste, woran man war. Es konnte gut sein, dass er heute nicht nur auf einen Sieg, sondern auf den Tod seines Gegners aus war. Seine Laune wechselte von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde.

Silvanis traf kurz entschlossen eine Entscheidung. Er konnte seinen Bruder nicht da hinausgehen lassen. Lucianus durfte keinesfalls da draußen sterben. Nicht wegen einer Beleidigung, an der womöglich sogar Silvanis schuld war. Immerhin sahen sie sich, trotz des Altersunterschiedes von knapp zehn Jahren, erstaunlich ähnlich, und womöglich hatte Silvanis’ Verhalten irgendeinem Saufkumpan von Ritter Regulus Veranlassung zu seinen Vermutungen gegeben, der Silvanis jedoch für Lucianus hielt. Auszuschließen war es nicht.

Und so mischte Silvanis ein starkes Schlafmittel in den kalten Tee, den er seinem Bruder zu dem leichten Frühstück servierte, das dieser vor dem Kampf zu sich nehmen wollte. Er ermutigte seinen Bruder, den Tee auch zu trinken, weil der ihm gut tun würde. Nun, es war nicht wirklich gelogen, aus Silvanis’ Sicht konnte es seinem Bruder nur gut tun, nicht gegen Regulus von Hohenburg anzutreten. Er würde ihm nach dem Kampf, wenn Lucianus wieder wach wäre, erläutern, dass er ihn schützen musste, dass er Regulus nicht triumphieren lassen konnte. Und hoffen, dass sein Bruder Verständnis zeigte und nicht allzu gekränkt reagierte.

Während Silvanis Lucianus möglichst bequem auf sein schmales Ruhelager bettete, das er in einem durch einen Vorhang abgetrennten Teil des Zeltes hatte, und anschließend seines Bruders Kleidung anlegte, dachte er darüber nach, was er in diesem Kampf erreichen wollte. Er wollte keinesfalls verlieren, die Beleidigung musste fortgewaschen werden, Regulus musste widerlegt werden. Und eigentlich hätte er Regulus gerne getötet, doch dann würde Falco den Titel und die Burg erben. Er würde sich um seine Schwägerin und deren Kinder kümmern müssen, es würde von ihm erwartet werden, so schnell wie möglich selbst zu heiraten und für mögliche Erben zu sorgen. Falco würde zwar seinen Bruder kaum vermissen, doch seine Freiheiten würden ihm fehlen. Und ein wenig hatte Silvanis auch Angst, dass so viel Verantwortung und Veränderung auch das Ende ihrer Beziehung wäre. Nein, Regulus sollte besser überleben, es wäre genug, ihn zu besiegen.

Lucianus’ Knappe kam herein und Silvanis achtete darauf, möglichst wortkarg zu bleiben und sich im Schatten zu halten, bis er den Helm aufhatte, der seine jungen Gesichtszüge verbarg und seine Stimme verzerrte. Keinesfalls wollte er, dass der Knappe sein Mitwisser war und Lucianus’ möglichen Zorn mit ausbaden musste. Das hatte der Junge nicht verdient, er konnte ja nichts für die Situation.

Silvanis warf einen letzten unauffälligen Blick auf den Vorhang, hinter dem sein älterer Bruder schlief, und bat Lucianus in Gedanken um Verzeihung. Hoffentlich wurde eine Täuschung aus Liebe milder bewertet als eine Täuschung aus niederen Beweggründen. Mit einem leisen Seufzen trat Silvanis vor das Zelt, dessen Klappe der Knappe geöffnet hatte, und warf einen Blick zum Zelt seines Gegners hinüber. Für einen Moment sahen sich beide an, die Schultern gestrafft und den Kopf erhoben, bevor sie zu ihren Pferden gingen. Silvanis achtete darauf, auf dem rechten Bein etwas zu hinken, da der Allgemeinheit bekannt war, dass Lucianus sich im Turnier verletzt hatte. Keinesfalls wollte er wegen solch einer Kleinigkeit enttarnt werden. Nein, niemand durfte merken, dass nicht Lucianus von Erlental in dieser Rüstung steckte.

Der Kampf lief nicht schlecht für Silvanis, auch wenn er einmal fast vom Pferd gestürzt war, als er Regulus’ Lanze ausweichen musste, und innerlich jubilierte er, als es ihm gelang, Regulus von Hohenburg vom Pferd zu stoßen.

Das sollte seinem Hochmut einen Dämpfer versetzen. Er wird noch bereuen, dass er einen von Erlental geschmäht hat.

Der Kampf ging weiter, und lange konnte keiner von beiden einen entscheidenden Vorteil erringen. Silvanis rann der Schweiß über die Haut, er wünschte, der Kampf wäre bald vorbei. Er hatte zwar insgeheim hart trainiert, aber er mied meist Turniere und war diese Art des Kämpfens deshalb bei weitem nicht so gewöhnt wie sein Gegner. Er spürte seinen Arm langsam ermüden, und inzwischen war das Hinken nicht mehr wirklich gespielt, sondern lag mehr an der Erschöpfung seiner Muskeln.

Sein Schild zerbarst unter einem harten Schlag und Silvanis spürte den Aufprall bis in die Schulter hinauf. Dennoch wehrte er sich weiter, kämpfte weiter, war nicht bereit, aufzugeben. Er musste für Lucianus gewinnen, er musste Lucianus’ Ruf wieder reinwaschen. Sein Bruder war geschlagen genug mit seinem jüngeren Bruder, der sich nach außen hin nur für Musik und Literatur interessierte, und ihm keine große Hilfe war. Jetzt hatte Silvanis endlich die Gelegenheit, Lucianus etwas von seiner Güte und Geduld zurückzugeben, ihm ebenfalls zu helfen, wie es sich für Brüder gehörte.

Im ersten Moment begriff Silvanis gar nicht, was passiert war, als plötzlich ein stechender Schmerz durch seinen Hals zuckte. Seine Hände fuhren ganz automatisch zu der Stelle, und erst, als seine Knie hart auf dem Boden aufschlugen, begriff auch sein Verstand, dass er gerade schwer verwundet worden war. Sehr schwer, wenn er nach dem stetigen warmen Strom aus seinem Hals ging. Seine Kraft schwand rasch und er sank zur Seite, noch immer die behandschuhten Hände an den gepanzerten Hals gepresst. Wie durch einen Schleier sah er seinen Gegner niederknien und ihm den Helm abnehmen und er konnte nur daran denken, dass Regulus von Hohenburg es jetzt beenden wollte, ihm das Schwert in den Hals rammen und hämisch auf ihn herabgrinsen würde.

Er fand sich damit ab, so zu sterben, ihm blieb ja gar nichts anderes übrig, er hatte nicht einmal mehr die Kraft, eine Hand zu heben, geschweige denn einen tödlichen Streich abzuwehren. Doch das, was dann passierte, hatte er nicht erwartet. Der tödliche Schwertstoß erfolgte nie. Stattdessen riss sich sein Gegner selbst den Helm vom Kopf und Silvanis brechende Augen erkannten sofort den einen Mann auf Erden, für den er wirklich alles getan hätte, den er mehr liebte, als sein eigenes Leben. Tränen strömten über Wangen, die die salzige Flut nicht mehr spürten, als Silvanis zu allem, was ihm heilig war, flehte, es möge nicht wahr sein, es möge sich um einen Alptraum handeln, eine Sinnestäuschung, einen grausamen Scherz seines sterbenden Verstandes. Und doch wusste sein Herz, dass es die Wahrheit war, und es schmerzte so sehr, so sehr. Als hätte das Schwert nicht den Hals sondern das Herz getroffen. Es wurde bereits schwarz um Silvanis, als er ein Gewicht auf sich fallen spürte, ein Gewicht, das sein Verstand nicht identifizieren konnte und in dem sein Herz doch den Geliebten erkannte, erahnend was Falco getan hatte und trauernd, trauernd mit dem letzten Atemzug.
14.05.2009, 22:32


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Morgen-Grauen (Tirgatao) - von Traumtaenzer - 14.05.2009, 22:25
[Kein Betreff] - von Traumtaenzer - 14.05.2009, 22:30
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